Theophr.Char.16
Die Beispiele, die Theophrast für das charakteristische Verhalten eines abergläubischen Menschen auswählt, machen leicht deutlich, was er unter "Deisidaimonie" (δεισιδαιμονία, 1) versteht. Eigentlich nichts anderes, als auch das Wort selbst seiner Etymologie nach bedeutet: Eine übertriebene Furcht (δειλία, 1) vor dem Numinosen, der als "normal" geltende religöse Verhaltensweisen nicht mehr genügen. Aberglaube definiert sich also als Abweichung von dem, was jeweils als "normaler" Glaube gilt und muss insofern immer da auftauchen, wo die gesellschaftlich akzeptierte Religiosität als ungenügend empfunden wird. Das skrupulöse Bedürfnis, sich gegen irrationalen Schaden abzusichern, führt zu einem unvernünftigen (ἀφρονεῖν, 10), geradezu zwanghaften Verhalten. Heute würde man vielleicht von "Normidealisierung", von "Waschzwang" oder "ekklesiogener Neurose" sprechen. Dass sich ein solcher Mensch aus dem Rahmen "normaler" Religiosität entfernt, zeigt am besten das Mauseloch im Mehlsack (6): Was der Priester dazu sagt, kann dem Abergläubischen nicht genügen: hinter dem Mauseloch muss mehr stecken, eine tiefreligiöse Bedeutung. Es ist nicht einfach ein Loch, das man nur zu flicken braucht: es geht eine Gefahr von ihm aus, der man nur mit ausgeklügelten Ritualen begegnen kann. Insofern haben die Praktiken des Aberglaubens immer einen apotropäischen Charakter. Die Vorbehalte beziehen sich weniger auf den etablierten Götterhimmel als auf die dunklen Mächte der Unterwelt: Athene erscheint als Helferin (Ἀθηνᾶ κρείττων), wenn Hekate aus der Unterwelt herbeizitiert wurde (Ἑκάτης... ἐπαγωγή, 7), ist Gefahr in Verzug und es bedarf es einer besonderen Reinigungszeremonie. Geburt, Tod, Grab und Traum (ἐνύπνιον, 11) sind die Pforten ins Jenseits und hier liegen die Empfindlichkeiten des Abergläubischen: die Wöchnerin (λεχώ, 9), eine Bestattung (ἐκφορά, 2), ein Toter (νεκρός), ein Grab (μνῆμα, 9), ein Traumgesicht (ἐνύπνιον, 11). Die Schlange (ὄφις, 4) wird seit ältester Zeit als Grenzgänger zwischen Unter- und Oberwelt gefürchtet und verehrt. Der Weiheguss gilt den Toten (ἔλαιον καταχεῖν, 5). Besonders die geheimnisumwitterten Mysterien mussten mit ihren Heilsversprechungen für den Abergläubischen attraktiv sein (11A). Muss man bei allen Ritualen Sorgfalt walten lassen (ἐπιμελῶς, 12), so besonders bei der Einhaltung der genauen (heiligen) Zahl: drei Steine (λίθους τρεῖς, 3) muss man werfen, keinen mehr und keinen weniger, nur an bestimmten Tagen (ταῖς τετράσι καὶ ἑβδομάσι, 10) bestimmte Handlungen vornehmen, sonst bleibt der geheime Zauber wirkungslos. |
16
|
ΔΕΙΣΙΔΑΙΜΟΝΙΑΣ
(1) Ἀμέλει ἡ δεισιδαιμονία δόξειεν [ἂν] εἶναι δειλία πρὸς τὸ δαιμόνιον, ὁ δὲ δεισιδαίμων τοιοῦτός τις, (2) οἷος ἐπιτυχὼν ἐκφορᾷ ἀπονιψάμενος τὰς χεῖρας καὶ περιρρανάμενος ἀπὸ ἱεροῦ δάφνην εἰς τὸ στόμα λαβὼν οὕτω τὴν ἡμέραν περιπατεῖν.
|
Der Abergläubische
Aberglaube dürfte einfach eine Verzagtheit gegenüber dem Göttlichen sein. Der Abergläubische aber verhält sich in etwa so: (2) Trifft er auf eine Bestattung, säubert er sich die Hände, besprengt sich ringsum mit Weihwasser und läuft den ganzen Tag mit einem Lorbeerblatt im Mund herum.
|
|
(3) καὶ τὴν ὁδὸν ἐὰν ὑπερδράμῃ γαλῆ, μὴ πρότερον πορευθῆναι, ἕως διεξέλθῃ τις ἢ λίθους τρεῖς ὑπὲρ τῆς ὁδοῦ διαβάλῃ.
|
(3) Wenn ihm ein Wiesel über den Weg läuft, geht er erst weiter, wenn jemand vorbeigekommen ist oder er drei Steine über den Weg geworfen hat. |
|
(4) καὶ ἐὰν ἴδῃ ὄφιν ἐν τῇ οἰκίᾳ, ἐὰν παρείαν, Σαβάζιον καλεῖν, ἐὰν δὲ ἱερόν, ἐνταῦθα ἡρῷον εὐθὺς ἱδρύσασθαι.
|
(4) Wenn er im Haus eine Schlange sieht, ruft er, wenn es eine Backenschlange ist, den Sabazios an, wenn eine heilige Schlange, errichtet er dort sofort ein Heiligtum. |
|
(5) καὶ τῶν λιπαρῶν λίθων τῶν ἐν ταῖς τριόδοις παριὼν ἐκ τῆς ληκύθου ἔλαιον καταχεῖν καὶ ἐπὶ γόνατα πεσὼν καὶ προσκυνήσας ἀπαλλάττεσθαι. |
Geht er an den Ölsteinen an den Dreiwegen vorbei, macht er aus seiner Flasche (Lekythos) einen Weiheguss, fällt auf die Knie und entfernt sich erst nach kniefälliger Verehrung.
|
|
(6) καὶ ἐὰν μῦς θύλακον ἀλφίτων διαφάγῃ, πρὸς τὸν ἐξηγητὴν ἐλθὼν ἐρωτᾶν, τί χρὴ ποιεῖν, καὶ ἐὰν ἀποκρίνηται αὐτῷ ἐκδοῦναι τῷ σκυτοδέψῃ ἐπιρράψαι, μὴ προσέχειν τούτοις, ἀλλ' ἀποτραπεὶς ἐκθύσασθαι.
|
Wenn eine Maus ein Loch in seinen ledernen Mehlsack gefressen hat, geht er zum Ausleger und fragt, was er tun soll. Antwortet er, er solle ihn beim Sattler flicken lassen, kümmert er sich darum nicht, sondern macht kehrt und bringt ein Opfer dar. |
|
(7) καὶ πυκνὰ δὲ τὴν οἰκίαν καθᾶραι δεινὸς Ἑκάτης φάσκων ἐπαγωγὴν γεγονέναι.
|
Oft reinigt er sein Haus, indem er behauptet, es habe eine Beschwörung der Hekate gegeben.
|
|
(8) κἂν γλαῦκες βαδίζοντος αὐτοῦ ταράττωνται, [καὶ] εἴπας· Ἀθηνᾶ κρείττων, παρελθεῖν οὕτω.
|
Wenn Eulen an seinem Weg aufgeschreckt werden, geht er erst vorbei, wenn er gesagt hat: "Athena ist stärker." |
|
(9) καὶ οὔτε ἐπιβῆναι μνήματι οὔτ' ἐπὶ νεκρὸν οὔτ' ἐπὶ λεχὼ ἐλθεῖν ἐθελῆσαι, ἀλλὰ τὸ μὴ μιαίνεσθαι συμφέρον αὑτῷ φῆσαι εἶναι. |
An ein Grab, eine Leiche oder eine Wöchnerin tritt er freiwillig nicht heran, sondern sagt, es sei vorteilhaft, sich nicht zu beflecken. |
|
(10) καὶ ταῖς τετράσι δὲ καὶ ἑβδομάσι προστάξας οἶνον ἕψειν τοῖς ἔνδον, ἐξελθὼν ἀγοράσαι μυρσίνας, λιβανωτόν, πόπανα καὶ εἰσελθὼν εἴσω στεφανοῦν τοὺς Ἑρμᾶς, ἀφρονεῖν ὅλην τὴν ἡμέραν. |
An jedem vierten und siebten Tag lässt er die Leute im Haus Wein kochen. Selbst geht er fort und kauft Myrten, Weihrauch und Opferkuchen. Er geht wieder nach Hause, bekränzt die Hermen und verhält sich den ganzen Tag unsinnig. |
|
(11) καὶ ὅταν ἐνύπνιον ἴδῃ, πορεύεσθαι πρὸς τοὺς ὀνειροκρίτας, πρὸς τοὺς μάντεις, πρὸς τοὺς ὀρνιθοσκόπους, ἐρωτήσων, τίνι θεῶν - ἢ θεᾷ - προσεύχεσθαι δεῖ.
|
Nach einem Traumgesicht geht er zu den Traumdeutern, zu den Sehern, zu den Vogelschauern, um zu fragen, zu welchem Gott - oder welcher Göttin - er beten müsse. |
|
(11a) καὶ τελεσθησόμενος πρὸς τοὺς Ὀρφεοτελεστὰς κατὰ μῆνα πορεύεσθαι μετὰ τῆς γυναικός - ἐὰν δὲ μὴ σχολάζῃ ἡ γυνή, μετὰ τῆς τίτθης - καὶ τῶν παιδίων. |
Zur Mysterienweihe, geht er monatlich zu den Orpheuspriestern mit der Frau - wenn die Frau aber unpässlich ist, mit der Amme - und mit den Kindern. |
|
(12) καὶ τῶν περιρραινομένων ἐπὶ θαλάττης ἐπιμελῶς δόξειεν ἂν εἶναι.
|
Auch zu denen, die sich am Meer sorgfältig besprengen, dürfte er, so scheint's, gehören. |
|
(13) κἄν ποτε ἐπίδῃ σκορόδῳ ἐστεμμένον τῶν ἐπὶ ταῖς τριόδοις, ἀπελθὼν κατὰ κεφαλῆς λούσασθαι καὶ ἱερείας καλέσας σκίλλῃ ἢ σμίλακι κελεῦσαι αὑτὸν περικαθᾶραι. |
Erblickt er einmal einen von den Knoblauchbekränzten an den Dreiwegen, geht er weg, wäscht sich von Kopf bis Fuß, ruft Priesterinnen und lässt sich mit Meerzwiebel oder Eibe ringsum reinigen. |
|
(14) μαινόμενον δὲ ἰδὼν ἢ ἐπίληπτον φρίξας εἰς κόλπον πτύσαι. |
Erblickt er aber einen Rasenden oder Epileptiker, erschaudert er und spuckt in seinen Kleiderbausch.
|
Sabazios: Ein thrakischer Gott, dessen Kult (wie der der Bendis) seit dem 5. Jh. in Griechenland Eingang fand. | Sogenannte βαίτυλοι, die Apollon heilig waren, mit Wollbinden überhängt und mit Öl begossen wurden. Der bekannteste ist der Omphalos in Delphi. |
Knoblauchbekränzte: An den Dreiwegen verehrte man Hekate. Man stellte ihr dort Speisen auf. Entweder sind hier Männer der städtischen Müllentsorgung gemeint, die die verdorbenen Reste beseitigten, oder Bettler, die sich von dem Essen etwas nahmen. σκύλακι - ("mit jungem Hund") scheint mir nicht richtig überliefert zu sein. Es wäre eine Anspielung auf den Kult der Hekate, der der Hund heilig war: Man vollzog die Reinigung, indem man mit dem Kadaver eines jungen Hundes einen Kreis um das zog, was entsühnt werden sollte. Ich ändere daher in σμίλακι. Die Eibe hatte (wie die Meerzwiebel) sowohl im Kult als auch für die Medizin Bedeutung: Sie war den Erinyen, den Rachegöttinnen der Unterwelt geweiht. Die Pfeile, mit der Artemis die Töchter der Niobe tötete, waren mit Eibe vergiftet.
|