Cicero: Gespräche in Tusculum
Cic.Tusc.3,1-6
Philosophie als Arznei dür die Seele |
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Cicero: Tusculanae Disputationes
Cic.Tusc.3,1-6
Philosophie als Arznei dür die Seele |
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Cicero: Gespräche in Tusculum
Cic.Tusc.3,1-6
Philosophie als Arznei dür die Seele |
1,1 |
[Cic.Tusc.3,1,1] Quidnam esse, Brute, causae putem, cur, cum constemus ex animo et corpore, corporis curandi tuendique causa quaesita sit ars atque eius utilitas deorum inmortalium inventioni consecrata, animi autem medicina nec tam desiderata sit, ante quam inventa, nec tam culta, posteaquam cognita est, nec tam multis grata et probata, pluribus etiam suspecta et invisa? Um den Körper zu behandeln und zu schützen, hat man eine eigene Kunst erfunden und die Erfindung ihres Nutzens wegen den unsterblichen Göttern geweiht; was soll ich nun, mein Brutus, für den Grund halten, dass die Heilung der Seele, da wir doch aus Seele und Leib bestehen, nicht ebenso vermisst wurde, ehe sie erfunden war, und, nachdem sie bekannt war, nicht ebenso geübt wurde; dass sie bei so vielen nicht auf Gegenliebe und Anerkennung stieß, von mehreren sogar verdächtigt und abgelehnt wurde? |
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1,2 |
[Cic.Tusc.3,1,2] An quod corporis gravitatem et dolorem animo iudicamus, animi morbum corpore non sentimus? Etwa darum, weil wir die Last und den Schmerz des Körpers mit der Seele beurteilen, aber die Krankheit der Seele mit dem Körper nicht fühlen? |
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1,3 |
[Cic.Tusc.3,1,3] Ita fit, ut animus de se ipse tum iudicet, cum id ipsum, quo iudicatur, aegrotet. So kommt es, dass die Seele erst dann über sich selbst urteilt, wenn derjenige Teil, mit dem geurteilt wid, schon krank ist. |
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2,1 |
[Cic.Tusc.3,2,1] Quodsi talis nos natura genuisset, ut eam ipsam intueri et perspicere eademque optima duce cursum vitae conficere possemus, haut erat sane, quod quisquam rationem ac doctrinam requireret. Wären wir durch die Natur von Geburt an so ausgestattett, dass wir sie selbst anschauen und durchblicken und unter ihrer trefflichen Leitung den Lauf des Lebens vollenden könnten: dann brauchte freilich niemand Lehre und Unterweisung. |
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2,2 |
[Cic.Tusc.3,2,2] Nunc parvulos nobis dedit igniculos, quos celeriter malis moribus opinionibusque depravati sic restinguimus, ut nusquam naturae lumen appareat. So aber legte sie in uns nur kleine Funken, die wir, schnell durch schlechte Sitten und Meinungen verdorben, so weit löschen, dass nirgends das Licht der Natur erscheinen kann. |
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2,3 |
[Cic.Tusc.3,2,3] Sunt enim ingeniis nostris semina innata virtutum, quae si adolescere liceret, ipsa nos ad beatam vitam natura perduceret. Angeboren ist unserem Geist der Samen der Tugend; ließen wir diesen ungehindert emporkeimen, so würde die Natur selbst uns zum glückseligen Leben führen. |
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2,4 |
[Cic.Tusc.3,2,4] Nunc autem, simul atque editi in lucem et suscepti sumus, in omni continuo pravitate et in summa opinionum perversitate versamur, ut paene cum lacte nutricis errorem suxisse videamur. Nun aber leben wir, sobald wir geboren und als Kinder aufgenommen sind, sofort auch in aller Verderbnis und in der höchsten Verkehrtheit der Meinungen, so dass wir den Irrtum beinahe mit der Milch der Amme eingesogen zu haben scheinen. |
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2,5 |
[Cic.Tusc.3,2,5] Cum vero parentibus redditi, dein magistris traditi sumus, tum ita variis imbuimur erroribus, ut vanitati veritas et opinioni confirmatae natura ipsa cedat. Sobald wir aber den Eltern zurückgegeben, dann den Erziehern anvertraut sind, werden wir von so vielfachen Irrtümern überschwemmt, dass dem leeren Schein die Wahrheit und dem verfestigten Meinen die Natur weichen muss. |
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3,1 |
[Cic.Tusc.3,3,1] Accedunt etiam poetae, qui, cum magnam speciem doctrinae sapientiaeque prae se tulerunt, audiuntur, leguntur, ediscuntur et inhaerescunt penitus in mentibus. Dazu kommen noch Dichter, die, wenn sie sich den hellen Glanz von Bildung und Weisheit zu geben wussten, gehört, gelesen und auswendig gelernt werden und so sich tief in der Seele verwurzeln. |
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3,2 |
[Cic.Tusc.3,3,2] Cum vero eodem quasi maxumus quidam magister populus accessit atque omnis undique ad vitia consentiens multitudo, tum plane inficimur opinionum pravitate a naturaque desciscimus, ut nobis optime naturae vim vidisse videantur, qui nihil melius homini, nihil magis expetendum, nihil praestantius honoribus, imperiis, populari gloria iudicaverunt. Wenn sich nun hierzu noch als der größte Lehrmeister das Volk gesellt und ringsum die ganze Menge, die jedem Fehler zustimmt, dann werden wir vollends angesteckt von der Verkehrtheit der Vorurteile und fallen von der Natur ab. Dann scheinen uns die am besten das Wesen der Natur erkannt zu haben, die Ehrenstellen, Herrschaft, Volksruhm für das Beste, Wünschenswerteste, Trefflichste erklärten, was der Mensch haben kann. |
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3,3 |
[Cic.Tusc.3,3,3] Ad quam fertur optumus quisque veramque illam honestatem expetens, quam unam natura maxime anquirit, in summa inanitate versatur consectaturque nullam eminentem effigiem virtutis, sed adumbratam imaginem gloriae. Dahin streben nun gerade die Besten; und während sie nach jener wahren Ehre verlangen, die allein die Natur am meisten aufsucht, sind sie im höchsten Schein befangen und gewinnen statt des glanzvollen Ideals den verdunkelten Schattenriss des Ruhmes. |
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3,4 |
[Cic.Tusc.3,3,4] Est enim gloria solida quaedam res et expressa, non adumbrata; ea est consentiens laus bonorum, incorrupta vox bene iudicantium de eccellenti virtute, ea virtuti resonat tamquam imago; quae, quia recte factorum plerumque comes est, non est bonis viris repudianda. Denn der Ruhm ist etwas Wesenhaftes und Ausgeprägtes, nicht bloß Schattenhaftes; er ist das übereinstimmende Lob der Guten, die unbestechliche Stimme derer, die über eine ausgezeichnete Tugend gerecht urteilen. So hallt er der Tugend nach wie ihr Echo. Und insofern er gewöhnlich der Begleiter rechten Tuns ist, ist er von rechtschaffenen Männern nicht zu verschmähen. |
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4,1 |
[Cic.Tusc.3,4,1] Illa autem, quae se eius imitatricem esse volt, temeraria atque inconsiderata et plerumque peccatorum vitiorumque laudatrix, fama popularis, simulatione honestatis formam eius pulchritudinemque corrumpit. Doch jener Ruhm beim Volk, der sein Nachahmer sein will, jener unbesonnene und unbedachte Lobredner, und zwar meist von Fehlern und Vergehen, entstellt unter Vortäuschung von Ehre die Gestalt und Schönheit des Ruhmes. |
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4,2 |
[Cic.Tusc.3,4,2] Qua caecitate homines, cum quaedam etiam praeclara cuperent eaque nescirent, nec ubi nec qualia essent, funditus alii everterunt suas civitates, alii ipsi occiderunt. In dieser Blindheit haben Männer, deren Absicht zum Teil sogar edel war, von deren Gegenstand sie aber nicht wussten, wo und wie beschaffen er ist, ihre Staaten gänzlich zu Grunde gerichtet, andere sind darüber selbst zu Grunde gegangen. |
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4,3 |
[Cic.Tusc.3,4,3] Atque hi quidem optuma petentes non tam voluntate quam cursus errore falluntur. Solche Menschen nun, die sonst das Beste wollen, täuschen sich weniger in ihrem Willen, als durch den Irrweg, den sie einschlagen. |
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4,4 |
[Cic.Tusc.3,4,4] Quid? qui pecuniae cupiditate, qui voluptatum libidine feruntur, quorumque ita perturbantur animi, ut non multum absint ab insania, quod insipientibus contingit omnibus, is nullane est adhibenda curatio? Wie aber, wer sich von Geldgier, wer von Wollust sich hinreißen lässt, wer sich in solchem Zustand der Leidenschaft befindet, dass er nicht weit vom Wahnsinn entfernt ist, was auf alle Toren zutrifft, soll es für den keine Heilung geben? |
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4,5 |
[Cic.Tusc.3,4,5] utrum quod minus noceant animi aegrotationes quam corporis, an quod corpora curari possint, animorum medicina nulla sit? Etwa weil Krankheiten der Seele weniger schaden als die des Körpers? Oder weil der Körper geheilt werden kann, es für die Seele aber keine Arznei gibt? |
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5,1 |
[Cic.Tusc.3,5,1] At et morbi perniciosiores pluresque sunt animi quam corporis—hi enim ipsi odiosi sunt, quod ad animum pertinent eumque sollicitant—, 'animusque aeger', ut ait Ennius, 'semper errat neque pati neque perpeti potest, cupere numquam desinit.' Aber die Krankheiten der Seele sind doch gefährlicher, und sie sind zahlreicher, als die des Körpers. Denn gerade deswegen sind sie widrig, weil sie auf die Seele zielen und diese beunruhigen; und 'eine bekümmerte Seele irrt immer', wie Ennius sagt, 'kann weder dulden noch aushalten und zu begehren hört sie nimmer auf.' |
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5,2 |
[Cic.Tusc.3,5,2] Quibus duobus morbis, ut omittam alios, aegritudine et cupiditate, qui tandem possunt in corpore esse graviores? Diese zwei Krankheiten – um von anderen zu schweigen – Kummer und Begierde – von welchen körperlichen könnten sie überwogen werden? |
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5,3 |
[Cic.Tusc.3,5,3] Qui vero probari potest, ut sibi mederi animus non possit, cum ipsam medicinam corporis animus invenerit, cumque ad corporurn sanationem multum ipsa corpora et natura valeat nec omnes, qui curari se passi sint, continuo etiam convalescant, animi autem, qui se sanari voluerint praeceptisque sapientium paruerint, sine ulla dubitatione sanentur? Wie ließe sich aber nachweisen, dass die Seele sich selbst nicht heilen könne, da sie es ist, die auch die Heilkunst des Körpers erfand? Überdies trägt zur Genesung des Körpers viel der Körper selbst und die Natur bei und doch gesunden nicht sofort auch alle, die sich heilen lassen wollen; die Seelen dagegen, die sich geheiligt wissen wollen und den Vorschriften der Weisen gehorchen, werden ohne allen Zweifel gesund. |
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6,1 |
[Cic.Tusc.3,6,1] Est profecto animi medicina, philosophia; cuius auxilium non, ut in corporis morbis, petendum est foris, omnibusque opibus viribus, ut nosmet ipsi nobis mederi possimus, elaborandum est. Wahrlich die Arznei der Seele ist die Philosophie; ihre Hilfe darf man aber nicht, wie bei den körperlichen Krankheiten, auswärts suchen; sondern wir müssen mit aller Kraft darauf hinarbeiten, dass wir uns selbst heilen können. |
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6,2 |
[Cic.Tusc.3,6,2] Quamquam de universa philosophia, quanto opere et expetenda esset et colenda, satis, ut arbitror, dictum est in Hortensio. Indes glaube ich über die Philosophie insgesamt, über die Notwendigkeit, nach ihr zu streben und sie zu üben, genug im Hortensius gesagt zu haben. |
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6,3 |
[Cic.Tusc.3,6,3] De maxumis autem rebus nihil fere intermisimus postea nec disputare nec scribere. Doch ließ ich auch nachher wohl keine Gelegenheit aus, ihre Hauptthemen mündlich und schriftlich zu erörtern. |
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6,4 |
[Cic.Tusc.3,6,4] His autem libris exposita sunt ea quae a nobis cum familiaribus nostris in Tusculano erant disputata. In diesen Büchern aber stelle ich meine Unterredungen mit Freunden auf dem Landgut zu Tusculum dar. |
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6,5 |
[Cic.Tusc.3,6,5] Sed quoniam duobus superioribus de morte et de dolore dictum est, tertius dies disputationis hoc tertium volumen efficiet. In den zwei ersten ist vom Tod und Schmerz gehandelt; die Unterredung des dritten Tages wird dieses dritte Buch füllen. |
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Aufgabenvorschläge:
- Kann man diesen Text als Gründungsurkunde der Psychiatrie verstehen?
- Wo spielt Cicero auf das moralische Apriori der sittlichen Vernunft an?
- Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Wie wirkt die Gesellschaft auf seine moralische Entwicklung?
- Nach welchen Kriterien unterscheidet Cicero den nur schattenhaften und den wesenhaft ausgeprägten Ruhm? - Lassen sich für diese Unterscheidung aktuelle Beispiele aus heutiger Zeit finden?
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