Cicero: Gespräche in Tusculum
Cic.Tusc.2,42,3-49
Epikureische und stoische Lehre vom Sinn und Wert des Schmerzes
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Cicero: Tusculanae Disputationes
Cic.Tusc.2,42-49
Vom Sinn und Wert des Schmerzes |
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Cicero: Gespräche in Tusculum
Cic.Tusc.2,42-49
Vom Sinn und Wert des Schmerzes |
42,3 | Sitne igitur malum dolere necne, Stoici viderint, qui contortulis quibusdam et minutis conclusiunculis nec ad sensus permanantibus effici volunt non esse malum dolorem. | Nun, ob der Schmerz ein Übel ist, ob nicht, mögen die Stoiker begreifen, die durch einige geschraubte und winzige Schlüsse, die das Gefühl nicht erreichen, beweisen wollen, der Schmerz sei kein Übel. |
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42,4 | Ego illud, quicquid sit, tantum esse, quantum videatur, non puto, falsaque eius visione et specie moveri homines dico vehementius, doloremque omnem esse tolerabilem. | Dass er, was er auch sei, so groß ist, wie es scheint, glaube ich nicht; ich behaupte vielmehr, dass sich die Menschen durch eine falsche Ansicht und Vorstellung davon allzu heftig aufregen lassen und jeder Schmerz erträglich ist. |
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42,5 | Unde igitur ordiar? an eadem breviter attingam, quae modo dixi, quo facilius oratio progredi possit longius? | Wo soll ich nun beginnen? Soll ich, was ich eben sagte, noch einmal kurz berühren, um den Fortgang meiner Rede zu erleichtern? |
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43,1 | Inter omnes igitur hoc constat, nec doctos homines solum, sed etiam indoctos, virorum esse fortium et magnanimorum et patientium et humana vincentium toleranter dolorem pati; nec vero quisquam fuit, qui eum, qui ita pateretur, non laudandum putaret. | Allgemein anerkannt ist es, von Ungebildeten wie von Gebildeten, dass es tapferen, hochherzigen, ausdauernden und über die menschlichen Zufälle erhabenen Männern geziemt, den Schmerz standhaft zu ertragen; und stets fand man auch den, der so duldete, lobenswert. |
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43,2 | Quod ergo et postulatur a fortibus et laudatur, cum fit, id aut extimescere veniens aut non ferre praesens nonne turpe est? | Das also, was man vom Tapferen fordert und, wenn es geschieht, lobt, zu fürchten, wenn es herankommt, oder nicht zu ertragen, wenn es da ist, ist das nicht schändlich? |
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43,3 | Atqui vide ne, cum omnes rectae animi adfectiones virtutes appellentur, non sit hoc proprium nomen omnium, sed ab ea, quae una ceteris excellebat, omnes nominatae sint. Appellata est enim ex viro virtus. | Doch überlege: wenn alle richtigen seelischen Einstellungen "virtutes" heißen, könnte "virtus" ursprünglich nicht das eigentliche Wort für alle Tugenden sein, sondern alle von derjenigen, die vor den übrigen hervorleuchtete, ihren Namen haben. "Virtus" kommt nämlich von "vir" (der Mann). |
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43,4 | Viri autem propria maxime est fortitudo, cuius munera duo sunt maxima, mortis dolorisque contemptio. Utendum est igitur his, si virtutis compotes, vel potius si viri volumus esse, quoniam a viris virtus nomen est mutuata. | Die Haupteigenschaft des Mannes aber ist die Tapferkeit, die beide Hauptrichtungen in sich begreift: Verachtung des Todes und Verachtung des Schmerzes; diese müssen wir erfüllen, wenn wir die Tugend meistern, zutreffender, wenn wir Männer sein wollen; Denn das Wort "virtus" leitet sich von "vir" ab. |
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43,5 | Quaeres fortasse, quo modo, et recte; talem enim medicinam philosophia profitetur. | Du fragst vielleicht, wie, und das mit Recht; denn Rat und Hilfe verspricht hier die Philosophie. |
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44,1 | Venit Epicurus, homo minime malus vel potius vir optimus; tantum monet, quantum intellegit. "Neglege", inquit, "dolorem". Quis hoc dicit? Idem qui dolorem summum malum. Vix satis constanter. Audiamus. | Da kommt Epikur, keinesfalls ein übler, vielmehr sehr guter Mensch; er rät, so gut er es versteht: "Achte den Schmerz nicht!" spricht er. Wer sagt das? Derselbe, der den Schmerz das größte Übel nennt. Schwerlich sehr konsequent. Aber hören wir Ihn! |
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44,2* | "Si summus dolor est", inquit, "necesse est brevem esse". Iteradum eadem ista mihi!" non enim satis intellego, quid summum dicas esse, quid breve. | "Wenn der Schmerz der höchste ist," sagt er, "muss er notwendig kurz sein." Sage mir das doch noch einmal; denn ich verstehe nicht recht, was du das "Höchste", was Du "kurz" nennst. |
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Der Auspruch Epikurs lautet (Sent.Vat.1): Jeder Schmerz lässt sich leicht verachten, bringt er schweres Leiden, dauert er nur kurz, sitzt er lange im Fleisch, so ist das Leid gering. |
44,3 | "Summum, quo nihil sit superius, breve, quo nihil brevius. Contemno magnitudinem doloris, a qua me brevitas temporis vindicabit ante paene, quam venerit". | "Das Höchste ist, worüber nichts hinausgeht; kurz, als was nichts kürzer dauert. Ich verachte die Heftigkeit des Schmerzes, von der mich die Kürze der Zeit erretten wird – beinahe noch bevor er gekommen ist". |
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44,4* | Sed si est tantus dolor, quantus Philoctetae? "Bene plane magnus mihi quidem videtur, sed tamen non summus; nihil enim dolet nisi pes; possunt oculi, potest caput, latera, pulmones, possunt omnia. Longe igitur abest a summo dolore. Ergo," inquit, "dolor diuturnus habet laetitiae plus quam molestiae". | Aber wenn der Schmerz so groß ist, wie der des Philoktet? – "Allerdings groß genug scheint mir dieser, doch nicht der höchste. Denn ihn schmerzt nur der Fuß. Es könnten ihn auch die Augen, es könnte ihn das Haupt, die Lenden, die Lunge, – alles könnte ihn schmerzen. Da fehlt also noch viel zum höchsten Schmerz. Also hatte", sagte er, "ein langer Schmerz mehr Erfreuliches als Beschwerliches." – |
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Die Griechen hatten auf ihrem Zug gegen Troia Philoktet auf der Insel Lemnos ausgesetzt, wo er zehn Jahre lang unter schrecklichen Schmerzen an seinem Fuß litt. |
45,1 | Nunc ego non possum tantum hominem nihil sapere dicere, sed nos ab eo derideri puto. | Jetzt kann ich nicht sagen, ein solcher Mann habe keinen Verstand; aber er wolle uns zum besten halten, muss ich schon glauben. |
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45,2 | Ego summum dolorem ("summum" autem dico, etiamsi decem atomis est maior alius) non continuo esse dico brevem multosque possum bonos viros nominare, qui complures annos doloribus podagrae crucientur maximis. | Vom größten Schmerz (den größten nenne ich ihn, auch wenn in ein anderer um zehn Atome übersteigt) behaupte ich nicht, er sei jedes Mal kurz; ich könnte viele rechtschaffene Männer nennen, die mehrere Jahre von den größten Schmerzen der Fußgicht gefoltert werden. |
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45,3 | Sed homo catus numquam terminat nec magnitudinis nec diuturnitatis modum, ut sciam quid summum dicat in dolore, quid breve in tempore. | Aber der schlaue Mann bestimmt nie den Maßstab weder der Größe, noch der Dauer; so dass ich wüsste, was er das Höchste nennt im Schmerz, was das Kurze in der Zeit. |
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45,4 | Omittamus hunc igitur nihil prorsus dicentem cogamusque confiteri non esse ab eo doloris remedia quaerenda, qui dolorem malorum omnium maximum dixerit, quamvis idem forticulum se in torminibus et in stranguria sua praebeat. | Lassen wir ihn also mit seinem nichtssagenden Gerede; er muss gestehen, dass bei ihm kein Mittel gegen den Schmerz zu suchen ist, da er den Schmerz für das größte aller Übel erklärt; wie sehr er auch selbst bei seiner Kolik und dem Harnzwang das tapfere Männchen machen mag. |
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45,5 | Aliunde igitur est quaerenda medicina, et maxime quidem, si, quid maxime consentaneum sit, quaerimus, ab eis, quibus, quod honestum sit, summum bonum, quod turpe, summum videtur malum. | Anderswoher also ist Hilfe zu suchen, und zwar hauptsächlich, wenn es uns um das Konsequenteste zu tun ist, bei denjenigen, die das Sittlich-Gute für das höchste Gut, das Sittlich-Böse für das höchste Übel erklären. |
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45,6 | His tu praesentibus gemere et iactare te non audebis profecto; loquetur enim eorum voce Virtus ipsa tecum: | In ihrer Gegenwart wirst du gewiss nicht wagen, zu jammern und dich umherzuwerfen; denn durch ihren Mund wird die Tugend selbst mit dir sprechen: |
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46,1 | "Tune, cum pueros Lacedaemone, adulescentes Olympiae, barbaros in harena videris excipientis gravissimas plagas et ferentis silentio, si te forte dolor aliquis pervellerit, exclamabis ut mulier, non constanter et sedate feres?" - | "Du, wenn du Knaben zu Sparta, Jünglinge zu Olympia, Barbaren auf dem Kampfplatz die heftigsten Schläge empfangen und stillschweigend ertragen siehst, solltest du etwa, wenn nun irgendein Schmerz dich anrührt, wie ein Weib aufschreien, solltest ihn nicht standhaft und gelassen ertragen?" - |
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46,2 | "Fieri non potest; natura non patitur."- | "Es geht nicht! Die Natur hät es nicht aus!" - |
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46,3 | Audio. Pueri ferunt gloria ducti, ferunt pudore alii, multi metu, et tamen veremur, ut hoc, quod a tam multis et quod tot locis perferatur, natura patiatur? | Ich verstehe! Die Knaben ertragen es aus Ruhmbegierde; andere ertragen es aus Scham, viele aus Furcht; und doch befürchten wir, die Natur halte nicht aus, was von so vielen an so manchen Orten ertragen wird? |
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46,4 | Illa vero non modo patitur, verum etiam postulat; nihil enim habet praestantius, nihil, quod magis expetat quam honestatem, quam laudem, quam dignitatem, quam decus. | Nicht bloß, dass sie es aushält, sie fordert es sogar. Denn sie hat nichts Vortrefflicheres, nichts, was sie mehr anstrebt, als ein anständiges, rühmliches Verhalten, als Würde und Ehre. |
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46,5 | Hisce ego pluribus nominibus unam rem declarari volo, sed utor, ut quam maxime significem, pluribus. | Durch diese Vielzahl von Worten will ich eine Sache bezeichnet wissen, aber um mich möglichst deutlich zu erklären, gebrauche ich mehrere Worte. |
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46,6 | Volo autem dicere illud homini longe optimum esse, quod ipsum sit optandum per se, a virtute profectum vel in ipsa virtute situm, sua sponte laudabile; | Soviel aber will ich sagen: das ist für den Menschen bei weitem das Beste, was um seiner selbst willen wünschenswert ist, das, weil es aus der Tugend hervorgeht oder in der Tugend selbst ruht, von sich aus lobenswert ist. |
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46,7 | quod quidem citius dixerim solum quam non summum bonum. | Und dies würde ich noch eher das einzige als nicht das höchstes Gut nennen. |
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46,8 | Atque ut haec de honesto, sic de turpi contraria, nihil tam taetrum, nihil tam aspernandum, nihil homine indignius. | Wie dies vom Sittlich-Guten, so gilt vom Sittlich-Bösen das Gegenteil: Nichts ist so hässlich, nichts so verächtlich, nichts des Menschen unwürdiger. |
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47,1 | Quod si tibi persuasum est (principio enim dixisti plus in dedecore mali tibi videri quam in dolore), reliquum est, ut tute tibi imperes; | Bist du hiervon überzeugt (denn anfangs sagtest du, dass dir in der Schande mehr Übel zu liegen scheint als im Schmerz), so bleibt nur noch, dass du es dir auferlegst. |
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47,2 | quamquam hoc nescio, quo modo dicatur. Quasi duo simus, ut alter imperet, alter pareat; non inscite tamen dicitur. | Indes weiß ich nicht, wie das zu verstehen ist; als ob wir zwei Personen wären, so dass eine befiehlt, die andere gehorcht; doch ist es nicht ungeschickt gesagt. |
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47,3 | Est enim animus in partis tributus duas, quarum altera rationis est particeps, altera expers. | Denn die Seele besteht aus zwei Teilen, einem vernünftigen und einem vernunftslosen. |
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47,4 | Cum igitur praecipitur, ut nobismet ipsis imperemus, hoc praecipitur, ut ratio coerceat temeritatem. | Wenn also vorgeschrieben wird, wir sollten uns selbst befehlen, so heißt das, die Vernunft solle die Unüberlegtheit zügeln. |
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47,5 | Est in animis omnium fere natura molle quiddam, demissum, humile, enervatum quodam modo et languidum. | Es liegt in den Seelen fast aller etwas von Natur Weichliches, Niedriges, Gemeines, gewissermaßen Kraftloses und Schlaffes. |
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47,6 | Si nihil esset aliud, nihil esset homine deformius; sed praesto est domina omnium et regina ratio, quae conixa per se et progressa longius fit perfecta virtus. | Wäre dies das einzige, so gäbe es nichts Gemeineres als den Menschen. Aber da ist aller Herrin und Königin zur Stelle, die Vernunft, die aus eigener Kraft aufsteigt und in ihrer weiteren Entwicklung vollendete Tugend wird. |
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47,7 | Haec ut imperet illi parti animi, quae oboedire debet, id videndum est viro. | Dafür, dass diese jenem Teil der Seele gebietet, der gehorchen muss, hat der Mann zu sorgen. |
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48,1 | "Quonam modo?" inquies. Vel ut dominus servo vel ut imperator militi vel ut parens filio. | "Auf welche Weise?", fragst du. Wie der Herr dem Sklaven oder der Feldherr dem Soldaten, oder der Vater dem Sohn. |
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48,2 | Si turpissime se illa pars animi geret, quam dixi esse mollem, si se lamentis muliebriter lacrimisque dedet, vinciatur et constringatur amicorum propinquorumque custodiis; | Wenn der Teil der Seele, den ich weichlich nannte, sich ganz schmählich verhält, wenn er sich Jammer und Tränen weibisch hingibt, werde er gefesselt und unter der Aufsicht von Freunden und Bekannten im Zaum gehalten. |
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48,3 | saepe enim videmus fractos pudore, qui ratione nulla vincerentur. | Denn oft sehen wir durch Scham überwältigt, wer durch keinen Vernunftgrund besiegt werden konnte. |
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48,4 | Ergo hos quidem ut famulos vinclis prope ac custodia, qui autem erunt firmiores nec tamen robustissimi, hos admonitu oportebit ut bonos milites revocatos dignitatem tueri. | Diese also müssen wie Diener, durch Fesseln und Gefängnis ihre Würde bewahren, andere aber, die zwar stärker sind, jedoch noch nicht in voller Kraft, dadurch, dass man sie wie gute Soldaten durch Zuspruch zur Ordnung ruft. |
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48,5 | Non nimis in Niptris ille sapientissimus Graeciae saucius lamentatur vel modice potius: | Nicht zu sehr wehklagt in den Niptra jener Weiseste von Griechenland, da er sich verwundet fühlt, vielmehr maßvoll: |
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48,6 | "Pedetemptim," inquit "ite et sedato nisu, | Ne succussu arripiat maior | Dolor . . . ." | "Nur Schritt für Schritt, und sachte aufgetreten, | Damit nicht durch Erschütterung größerer Schmerz | Mich fasse . . . ." |
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49,1 | Pacuvius hoc melius quam Sophocles (apud illum enim perquam flebiliter Ulixes lamentatur in vulnere); | Pacuvius hat das besser gemacht als Sophokles; denn bei diesem wehklagt Odysseus über seine Wunde überaus jämmerlich: |
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49,2 | tamen huic leviter gementi illi ipsi, qui ferunt saucium, personae gravitatem intuentes non dubitant dicere: | Dennoch sagen die Träger des Verwundeten selbst ohne zu Zögern im Hinblick auf die Würde seiner Person, zu ihm, als er leicht seufzt: |
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49,3 | "Tu quoque, Ulixes, quamquam graviter
| Cernimus ictum, nimis paene animo es
| Molli, qui consuetus in armis | Aevom agere..." | "Wie schwer verwundet wir dich auch erblicken, | Doch ist, Odysseus, fast auch dir zu weich | Das Herz, da an ein Leben du in Waffen | Gewohnt bist." |
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49,4 | Intellegit poeta prudens ferendi doloris consuetudinem esse non contemnendam magistram. | Der weise Dichter erkenn, dass die Gewohnheit eine nicht zu verachtende Lehrmeisterin im Ertragen von Schmerzen ist. |
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Aufgabenvorschläge:
- Stellen Sie die Aussagen Epikurs zum Schmerz zusammen, die Cicero wie wörtliche Lehrsätze zitiert!
- Welche Widersprüche glaubt Cicero in Epikurs Sätzen zu finden?
- Welche Haltung lässt Cicero die Stoiker zum Schmerz einnehmen und wie diese Haltung begründen?
- Informieren Sie sich über das "Modell des psychischen Apparats" nach Sigmund Freud und untersuchen Sie, ob es sich wenigstens entfernt mit der These von den zwei sich widerstrebend kooperierenden Seelenteilen im Text vergleichen lässt!
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