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Lucius Annaeus Seneca

Aus Senecas Briefen
(Sen.epist.24)
Wie sich der Weise gegen drohendes Unheil wappne

 

 
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Deutsche Übersetzung nach August Pauly bearbeitet von E. Gottwein
zu "Seneca" und "Pauly"
4619
Seneca / Pauly
Lucius Annäus Seneca des Philosophen Werke, 12.-115. Bändchen. Briefe, übersetzt von August Pauly
Stuttgart (Metzler) 1832-1836
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 SENECA LUCILIO SUO SALUTEM
Seneca grüßt seinen Lucilius
(24,1) Sollicitum esse te scribis de iudicii eventu, quod tibi furor inimici denuntiat; existimas me suasurum, ut meliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae. Quid enim necesse est mala accersere, satis cito patienda, cum venerint, praesumere, ac praesens tempus futuri metu perdere? Est sine dubio stultum, quia quandoque sis futurus miser, esse iam miserum.
(1) Du schreibst, der Ausgang eines Rechtsstreites, mit dem die Wut deines Widersachers dich bedroht, mache dich besorgt; und du glaubst nun, ich gebe dir den Rat, dir das Beste vorzustellen und dich mit wohltuender Hoffnung zu beruhigen. Denn was müssen wir das Schlimme herbeirufen und, was wir früh genug zu leiden haben, wenn es einmal da ist, vorausempfinden und uns so die Gegenwart durch die Angst vor der Zukunft verderben? Es ist unstreitig töricht, weil man vielleicht einmal unglücklich sein wird, es deswegen jetzt schon zu sein.
(24,2) Sed ego alia te ad securitatem via ducam: si vis omnem sollicitudinem exuere, quidquid vereris, ne eveniat, eventurum utique propone, et quodcumque est illud malum, tecum ipse metire ac timorem tuum taxa: intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis.
(2) Allein ich will dich auf einem anderen Weg zur Seelenruhe führen. Wenn du dich aller Bekümmernis entledigen willst, so stelle dir alles, was du befürchtest, als wirklich bevorstehend vor; miss bei dir selbst die Größe des Übels ab, was es auch sei, und bringe deine Furcht auf die Wage: Du wirst gewiss finden, dass entweder nicht wichtig oder nicht von Dauer ist, was du fürchtest.
(24,3) Nec diu exempla, quibus confirmeris, colligenda sunt: omnis illa aetas tulit. In quamcumque partem rerum vel civilium vel externarum memoriam miseris, occurrent tibi ingenia aut profectus aut impetus magni. Numquid accidere tibi, si damnaris, potest durius, quam ut mittaris in exilium, ut ducaris in carcerem? Numquid ultra quicquam ulli timendum est, quam ut uratur, quam ut pereat? Singula ista constitue et contemptores eorum cita, qui non quaerendi sed eligendi sunt.
(3) Und du brauchst nicht lange nach Beispielen zu suchen, an denen du dich stärken kannst: jedes Zeitalter hat solche hervorgebracht. Welchen Teil der Geschichte unserer Heimat oder des Auslandes du dir ins Gedächtnis rufst, überall werden dir Charaktere von hoher Vervollkommnung oder von großem Streben begegnen. Wirst du verurteilt, was kann dir Härteres begegnen, als in die Verbannung geschickt oder in das Gefängnis gebracht zu werden? Was muss einer mehr fürchten, als dass man ihn auf glühende Kohlen legt, dass man ihn umbringt? Stelle dir diese Dinge alle nacheinander vor Augen und lass ihre Verächter auftreten: Du musst sie nicht suchen, nur auswählen.
(24,4) Damnationem suam Rutilius sic tulit tamquam nihil illi molestum aliud esset, quam quod male iudicaretur. Exilium Metellus fortiter tulit, Rutilius etiam libenter; alter, ut rediret, rei publicae praestitit, alter reditum suum Sullae negavit, cui nihil tunc negabatur. In carcere Socrates disputavit et exire, cum essent qui promitterent fugam, noluit remansitque, ut duarum rerum gravissimarum hominibus metum demeret, mortis et carceris.
(4) Rutilius ertrug seine Verurteilung, als wäre ihm dabei nichts weiter verdrießlich, als dass schlecht gerichtet wurde. Metellus fügte sich in seine Verbannung mit Mut, Rutilius sogar gern. Jener kehrte zurück, der Republik zu gefallen, dieser verweigerte seine Rückkehr sogar einem Sulla, dem damals nichts verweigert wurde. Sokrates lehrte noch im Kerker, er wolle ihn nicht verlassen, obwohl man ihm die Rettung durch Flucht versprach: Er blieb, um den Menschen die Furcht vor den zwei ärgsten Dingen zu nehmen, vor Tod und Gefangenschaft.
(24,5) Mucius ignibus manum inposuit. Acerbum est uri: quanto acerbius si id te faciente patiaris! Vides hominem non eruditum nec ullis praeceptis contra mortem aut dolorem subornatum, militari tantum robore instructum, poenas a se inriti conatus exigentem; spectator destillantis in hostili foculo dexterae stetit nec ante removit nudis ossibus fluentem manum, quam ignis illi ab hoste subductus est. Facere aliquid in illis castris felicius potuit, nihil fortius. Vide, quanto acrior sit ad occupanda pericula virtus quam crudelitas ad inroganda: facilius Porsina Mucio ignovit, quod voluerat occidere, quam sibi Mucius, quod non occiderat.
(5) Mucius hielt seine Hand in die Flamme. Es schmerzt, gebrannt zu werden; und wie viel mehr, wenn man sich selbst brennt? Du siehst, wie ein Mensch ohne Bildung, ohne philosophische Unterweisung gegen Tod und Schmerz, nur mit der Kraft des Soldaten begabt, sich Buße für das misslungene Unternehmen auferlegt. Da steht er und sieht zu, wie seine Hand in die Glutpfanne des Feindes trieft, und zieht sie, bis auf die bloßen Knochen zerschmolzen, nicht eher zurück, bis ihm vom Feind das Feuer entzogen wird. Er konnte in jenem Lager eine glücklichere Tat vollbringen, eine mutigere nie. Siehe, um wie viel beherzter der Hochsinnige Gefahren entgegen geht, als der Grausame welche bereitet. Leichter verzieh Porsenna dem Mucius, dass er ihn ermorden wollte, als Mucius sich, dass er es nicht getan.
(24,6) 'Decantatae' inquis 'in omnibus scholis fabulae istae sunt; iam mihi, cum ad contemnendam mortem ventum fuerit, Catonem narrabis.' Quidni ego narrem ultima illa nocte Platonis librum legentem posito ad caput gladio? Duo haec in rebus extremis instrumenta prospexerat, alterum, ut vellet mori, alterum, ut posset. Compositis ergo rebus, utcumque componi fractae atque ultimae poterant, id agendum existimavit, ne cui Catonem aut occidere liceret aut servare contingeret;
(6) 'Märchen sind das', sagst du, 'die man in allen Schulen herunterleiert: gewiss wirst du mir auch, wenn du auf die Todesverachtung zu sprechen kommst, die Geschichte von Cato erzählen.' - Wie sollte ich es nicht erzählen, wie er in jener letzten Nacht, das Schwert neben dem Haupt, in Platons Phaidon las? Mit diesen beiden Hilfsmitteln hatte er sich in den letzten Augenblicken vorgesehen, mit dem einen, um sterben zu wollen, mit dem andern, um es zu können. Nachdem er seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, so gut es in jenen Zeiten der Zerrüttung und des Untergangs geschehen konnte, glaubte er dafür sorgen zu müssen, dass niemand die Macht bekäme, dem Cato das Leben zu nehmen, noch so glücklich werden mochte, es ihm zu erhalten.
(24,7) et stricto gladio quem usque in illum diem ab omni caede purum servaverat, 'nihil' inquit 'egisti, fortuna, omnibus conatibus meis obstando. Non pro mea adhuc sed pro patriae libertate pugnavi, nec agebam tanta pertinacia ut liber, sed ut inter liberos, viverem: nunc quoniam deploratae sunt res generis humani, Cato deducatur in tutum.'
(7) Und so zog er sein Schwert, das er bis auf jenen Tag rein von Mord bewahrt hatte, mit den Worten: "Du hast nichts ausgerichtet, o Glück, indem du allen meinen Unternehmungen dich widersetztest. Nicht für meine eigene, sondern für des Vaterlandes Freiheit habe ich bis jetzt gekämpft. Nicht um frei, sondern um unter Freien zu leben, war ich so beharrlich tätig: nun, weil die Sache der Menschheit aufgegeben ist, werde Cato in Sicherheit gebracht!"
(24,8) Inpressit deinde mortiferum corpori vulnus; quo obligato a medicis cum minus sanguinis haberet, minus virium, animi idem, iam non tantum Caesari sed sibi iratus nudas in vulnus manus egit et generosum illum contemptoremque omnis potentiae spiritum non emisit sed eiecit.
(8) Mit diesen Worten drückte er die Todeswunde in seinen Leib; die Ärzte verbanden ihn, Blut und Kräfte schwanden; aber an Mut sich gleich, zürnte er nun nicht über Caesar allein, sondern über sich, riss mit der bloßen Hand die Wunde auf und entließ nicht jene erhabene, jegliche Menschenmacht verachtende Seele, sondern trieb sie hinaus.
(24,9) Non in hoc exempla nunc congero, ut ingenium exerceam, sed ut te adversus id, quod maxime terribile videtur, exhorter; facilius autem exhortabor, si ostendero non fortes tantum viros hoc momentum efflandae animae contempsisse, sed quosdam ad alia ignavos in hac re aequasse animum fortissimorum, sicut illum Cn. Pompei socerum Scipionem, qui contrario in Africam vento relatus cum teneri navem suam vidisset ab hostibus, ferro se transverberavit et quaerentibus, ubi imperator esset, 'imperator' inquit 'se bene habet'.
(9) Ich führe dir solche Beispiele nicht in der Absicht an, mein Talent an ihnen zu üben, sondern um dich gegen das, was als das Furchtbarste gilt, zu ermutigen. Es wird mir dies um so leichter gelingen, wenn ich dir zeige, wie nicht nur mutige Männer diesen Augenblick, die Seele auszuhauchen, für nichts achteten, sondern wie einige, sonst zaghafte Leute hierin an Mut den Entschlossensten es gleich getan haben; wie dort des Gnaeus Pompeius Schwiegervater Scipio, da ihn widrige Winde nach Afrika zurückwarfen und sich der Feind seines Schiffes bemächtigte, sich den Dolch durch die Brust stieß und, als man fragte, wo der Feldherr sei, antwortete: "Mit dem Feldherrn steht es gut."
(24,10) Vox haec illum parem maioribus fecit et fatalem Scipionibus in Africa gloriam non est interrumpi passa. Multum fuit Carthaginem vincere, sed amplius mortem. 'Imperator' inquit 'se bene habet': an aliter debebat imperator, et quidem Catonis, mori?
(10) Dieses Wort stellte ihn seinen Ahnen gleich; es lässt den Ruhm der Scipionen, zu dessen Schauplatz das Verhängnis Afrika anwies, keine Unterbrechung erfahren.Es war ein Großes, über Karthago zu siegen; noch größer ist es, über den Tod. "Mit dem Feldherrn steht es gut." Durfte ein Feldherr, und zwar Catos Feldherr, anders sterben?
(24,11) Non revoco te ad historias nec ex omnibus saeculis contemptores mortis, qui sunt plurimi, colligo; respice ad haec nostra tempora, de quorum languore ac deliciis querimur: omnis ordinis homines suggerent, omnis fortunae, omnis aetatis, qui mala sua morte praeciderint. Mihi crede, Lucili, adeo mors timenda non est, ut beneficio eius nihil timendum sit.
(11) Doch ich will dich nicht an die Geschichte verweisen, noch aus alten Jahrhunderten die Verächter des Todes, deren so viele sind, zusammensuchen; betrachte nur diese unsere Zeiten, über deren Schlaffheit und Genusssucht wir klagen. Menschen aus allen Ständen, Reiche und Arme, Alte und Junge, werden dir begegnen, die ihre Leiden durch den Tod abkürzten. Glaube mir, mein Lucilius, der Tod ist so sehr nicht zu fürchten; ja es ist seine Wohltat, dass wir überhaupt nichts zu fürchten haben.
(24,12) Securus itaque inimici minas audi; et quamvis conscientia tibi tua fiduciam faciat, tamen, quia multa extra causam valent, et quod aequissimum est spera et ad id te, quod est iniquissimum, compara. Illud autem ante omnia memento, demere rebus tumultum ac videre, quid in quaque re sit: scies nihil esse in istis terribile nisi ipsum timorem.
(12) Sorglos höre also deines Feindes Drohungen: und so viel Zuversicht dir auch dein gutes Gewissen gibt, so hoffe zwar auf die gerechteste Entscheidung, aber bereite dich, weil vieles von außerhalb der Rechtssache einwirkt, auf die ungerechteste vor. Vor allem aber vergiss nie, den Dingen ihre schreckenden Begleiterscheinungen zu nehmen und zu sehen, was an jeder Sache ist. Du wirst dich überzeugen: die Furcht allein ist es, was sie schrecklich macht.
(24,13) Quod vides accidere pueris, hoc nobis quoque maiusculis pueris evenit: illi, quos amant, quibus adsueverunt, cum quibus ludunt, si personatos vident, expavescunt: non hominibus tantum sed rebus persona demenda est et reddenda facies sua.
(13) Was den Kindern begegnet, begegnet auch uns, den großen Kindern. Vor Leuten, die sie lieben, an die sie gewöhnt sind, mit denen sie spielen, erzittern sie, wenn sie sie hinter einer Maske erblicken. Nicht nur den Menschen, auch den Dingen muss man die Maske herunterziehen und ihr eigenes Gesicht zurückgeben.
(24,14) Quid mihi gladios et ignes ostendis et turbam carnificum circa te frementem? Tolle istam pompam, sub qua lates et stultos territas: mors es, quam nuper servus meus, quam ancilla contempsit. Quid tu rursus mihi flagella et eculeos magno apparatu explicas? quid singulis articulis singula machinamenta, quibus extorqueantur, aptata et mille alia instrumenta excarnificandi particulatim hominis? Pone ista, quae nos obstupefaciunt; iube conticiscere gemitus et exclamationes et vocum inter lacerationem elisarum acerbitatem: nempe dolor es, quem podagricus ille contemnit, quem stomachicus ille in ipsis deliciis perfert, quem in puerperio puella perpetitur. Levis es, si ferre possum; brevis es, si ferre non possum.
(14) Was zeigst du mir Schwerter und Feuerbrände und einen Schwarm drohender Henker um dich her? Weg mit diesem Mummenschanz, in den du dich hüllst, um Toren zu ängstigen! Du bist der Tod, den unlängst einer meiner Sklaven, eine meiner Sklavinnen verachtete. Und du - was legst du mir deine Geißeln und deinen ganzen Vorrat von Marterinstrumenten vor Augen und zeigst für jedes Glied eine besondere Maschine, berechnet es zu zerquälen, und tausend andere Werkzeuge, um den Menschen in Stückchen zu zerfleischen? Lege ab, was Schauer erregt; heiße schweigen jene Seufzer und Jammerrufe, jene grässlichen, unter den Martern ausgestoßenen Schreie. Du bist ja nur der Schmerz, den jeder Gichtkranke verachtet, den jeder Magenkranke mitten unter Tafelgenüssen erträgt, den das Weib aushält, das zum ersten Mal Mutter wird. Leicht bist du, wenn ich dich ertragen kann, kurz, wenn ich es nicht kann.
(24,15) Haec in animo voluta, quae saepe audisti, saepe dixisti; sed an vere audieris, an vere dixeris, effectu proba; hoc enim turpissimum est, quod nobis obici solet, verba nos philosophiae, non opera tractare. Quid? tu nunc primum tibi mortem inminere scisti, nunc exilium, nunc dolorem? in haec natus es; quidquid fieri potest, quasi futurum cogitemus.
(15) Mit dieser Wahrheit, die du schon oft gehört, oft ausgesprochen hast, beschäftige deinen Geist; aber ob du sie richtig aufgefasst und mit Überzeugung ausgesprochen hast, erprobe durch die Tat. Denn der schimpflichste Vorwurf, den man uns gewöhnlich macht, ist: wir machen uns nur mit den Worten der Philosophie, nicht mit ihren Werken zu tun. - Hast du denn jetzt erst erfahren, dass Tod, dass Verbannung und Qualen dir drohen? Dazu bist du geboren; alles, was geschehen kann, wollen wir uns als bevorstehend denken!
(24,16) Quod facere te moneo, scio certe <te> fecisse: nunc admoneo, ut animum tuum non mergas in istam sollicitudinem; hebetabitur enim et minus habebit vigoris, cum exsurgendum erit. Abduc illum a privata causa ad publicam; dic mortale tibi et fragile corpusculum esse, cui non ex iniuria tantum aut ex potentioribus viribus denuntiabitur dolor: ipsae voluptates in tormenta vertuntur, epulae cruditatem adferunt, ebrietates nervorum torporem tremoremque, libidines pedum, manuum, articulorum omnium depravationes.
(16) Doch ich weiß sicher, du tust längst, was ich dich zu tun mahne. Für jetzt rate ich dir nur, deinen Geist nicht in jene Sorgen zu versenken; er wird abgestumpft und ermangelt der Kraft, wenn er sich erheben soll. Lenke ihn von deinem besonderen Interesse auf die öffentlichen Angelegenheiten: erinnere dich, dass du einen sterblichen und zerbrechlichen Körper hast, dem nicht nur von der Ungerechtigkeit oder der Gewalt eines Mächtigeren Schmerz droht; selbst Vergnügungen wandeln sich in Qualen. Tafelgenüsse führen zu Verdauungsbeschwerden; Trunkenheit zu Nervenschwäche und Zittern; Wollust zerrüttet Füße, Hände und alle Glieder.
(24,17) Pauper fiam: inter plures ero. Exul fiam: ibi me natum putabo, quo mittar. Alligabor: quid enim? nunc solutus sum? ad hoc me natura grave corporis mei pondus adstrinxit. Moriar: hoc dicis, desinam aegrotare posse, desinam alligari posse, desinam mori posse.
(17) Ich soll arm werden? So werde ich viele Gefährten haben. Ich soll in die Verbannung gehen? Ich werde mir vorstellen, dort geboren zu sein, wohin man mich schickt. Ich werde in Fesseln gelegt? Was wäre dies? Bin ich denn jetzt frei? Die Natur hat mich an dieses schwere Gewicht meines Körpers gefesselt. Ich werde sterben? Damit sagst du, ich werde aufhören, krank sein zu können, aufhören gefesselt werden zu können, aufhören sterben zu können.
(24,18) Non sum tam ineptus, ut Epicuream cantilenam hoc loco persequar et dicam vanos esse inferorum metus, nec Ixionem rota volvi nec saxum umeris Sisyphi trudi in adversum nec ullius viscera et renasci posse cotidie et carpi: nemo tam puer est, ut Cerberum timeat et tenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium. Mors nos aut consumit aut exuit; emissis meliora restant onere detracto, consumptis nihil restat, bona pariter malaque summota sunt.
(18) Es wäre abgeschmackt, Epkurs Lied hier anzustimmen und dir sagen zu wollen, dass die Schrecknisse der Unterwelt nichtig seien, dass sich kein Ixion auf dem Rad drehe, kein Sisyphos ein Felsstück mit den Schultern bergan wälze und dass eines Menschen Eingeweide unmöglich alle Tage zerhackt werden und wieder wachsen können. Niemand ist Kind genug, sich vor dem Kerberos zu fürchten, vor jeder Finsternis und jenen Schreckgestalten der Gerippe. Der Tod vernichtet entweder, oder er befreit uns: den Befreiten bleibt nur das Bessere, sie sind entbürdet. Vernichtet er, so bleibt uns nichts; Gutes wie Schlechtes sind hinweggenommen.
(24,19) Permitte mihi hoc loco referre versum tuum, si prius admonuero ut te iudices non aliis scripsisse ista sed etiam tibi. Turpe est aliud loqui, aliud sentire: quanto turpius aliud scribere, aliud sentire! Memini te illum locum aliquando tractasse, non repente nos in mortem incidere sed minutatim procedere.
(19) Gestatte mir, hier einen Vers von dir selbst anzuführen und dich zuerst zu erinnern, ihn nicht nur für andere, sondern auch für dich selbst geschrieben anzusehen. Es ist schimpflich, anders zu sprechen, als man denkt; wie viel schimpflicher, anders zu schreiben, als man denkt. Ich erinnere mich, dass du einmal von dem Satze handeltest, "wir versinken nicht plötzlich in den Tod, sondern rücken ihm allmählich entgegen.
(24,20) Cotidie morimur; cotidie enim demitur aliqua pars vitae, et tunc quoque, cum crescimus, vita decrescit. Infantiam amisimus, deinde pueritiam, deinde adulescentiam. Usque ad hesternum quidquid transiit temporis, periit; hunc ipsum, quem agimus, diem cum morte dividimus. Quemadmodum clepsydram non extremum stilicidium exhaurit, sed quidquid ante defluxit, sic ultima hora, qua esse desinimus, non sola mortem facit sed sola consummat; tunc ad illam pervenimus, sed diu venimus.
(20) Wir sterben täglich; denn täglich wird uns ein Teil des Lebens genommen, und selbst solange wir noch zunehmen, nimmt unser Leben ab. Wir kommen um unsere Kindheit, dann um das Knaben- und Jünglingsalter; alle bis auf den gestrigen Tag vergangene Zeit ist dahin, und selbst diesen Tag, an dem wir leben, teilen wir mit dem Tod. Wie es nicht der letzte Tropfen ist, der die Wasseruhr leer macht, sondern jeder herabgeronnene, so macht die letzte Stunde, in der wir zu sein aufhören, nicht für sich allein den Tod aus, sondern sie vollendet ihn. Dann kommen wir wirklich zu ihm; aber nahe gekommen sind wir ihm schon lange."
(24,21) Haec cum descripsisses quo soles ore, semper quidem magnus, numquam tamen acrior quam ubi veritati commodas verba, dixisti,
mors non una venit, sed, quae rapit ultima, mors est.
Malo te legas quam epistulam meam; apparebit enim tibi hanc, quam timemus, mortem extremam esse, non solam.
(21) Nachdem du dies in deiner gewohnten großartigen Ausdrucksweise, die nie kraftvoller wird, als wo du der Wahrheit deine Worte leihst, dargestellt hattest, sagtest du:
Nicht nur ein Tod kommt, Tod ist, der uns hinrafft als letzer.
Lieber solltest du dich selbst als meinen Brief lesen: es würde dir klar werden, dass der Tod, den wir fürchten, nur der letzte, nicht der einzige ist.
(24,22) Video, quo spectes: quaeris, quid huic epistulae infulserim, quod dictum alicuius animosum, quod praeceptum utile. Ex hac ipsa materia, quae in manibus fuit, mittetur aliquid. Obiurgat Epicurus non minus eos, qui mortem concupiscunt, quam eos, qui timent, et ait: 'ridiculum est currere ad mortem taedio vitae, cum genere vitae, ut currendum ad mortem esset, effeceris'.
(22) Ich merke, wonach du dich umsiehst: Du suchst nach, was ich deinem Brief beigelegt habe, welches herzerhebende Wort, welchen heilsamen Lehrspruch. Du sollst über den selben Gegenstand, der uns eben beschäftigt, etwas erhalten. Epikur sagt, indem er diejenigen, die den Tod sehnlich wünschen, nicht minder scharf als diejenigen tadelt, die ihn fürchten: Es ist lächerlich, aus Lebensüberdruss in den Tod zu eilen, wenn man es durch die Art seines Lebens dahin gebracht hat, dass man in den Tod eilen muss."
(24,23) Item alio loco dicit: 'quid tam ridiculum quam adpetere mortem, cum vitam inquietam tibi feceris metu mortis?' His adicias et illud eiusdem notae licet, tantam hominum inprudentiam esse, immo dementiam, ut quidam timore mortis cogantur ad mortem.
(23) In gleichem Sinn sagt er an einem andern Ort: "Was ist so lächerlich, als nach dem Tod zu verlangen, nachdem man sich durch die Furcht vor dem Tod ein unruhiges Leben gemacht hat?" Du kannst auch folgende Worte des selben Schlages beifügen: "Die Unklugheit, ja der Unsinn mancher Menschen ist so groß, dass sie sich durch Furcht vor dem Tod zum Tod zwingen lassen."
(24,24) Quidquid horum tractaveris, confirmabis animum vel ad mortis vel ad vitae patientiam; in utrumque enim monendi ac firmandi sumus, et ne nimis amemus vitam et ne nimis oderimus. Etiam cum ratio suadet finire se, non temere nec cum procursu capiendus est impetus.
(24) Mit welchem dieser Sätze du dich beschäftigen magst, - du wirst deine Seele zur Ausdauer gegen den Tod wie gegen das Leben stärken, gegen beides haben wir uns zu verwahren und zu kräftigen, dass wir das Leben weder zu sehr lieben, noch zu sehr hassen. Auch wenn die Vernunft uns rät, ihm ein Ende zu machen, dürfen wir uns gleichwohl nicht in blindem Anlauf in den Tod stürzen.
(24,25) Vir fortis ac sapiens non fugere debet e vita sed exire; et ante omnia ille quoque vitetur adfectus, qui multos occupavit, libido moriendi. Est enim, mi Lucili, ut ad alia, sic etiam ad moriendum inconsulta animi inclinatio, quae saepe generosos atque acerrimae indolis viros corripit, saepe ignavos iacentesque: illi contemnunt vitam, hi gravantur.
(25) Der mutige und weise Mann soll nicht aus dem Leben fliehen, sondern gehen. Und vor allem werde jene Stimmung gemieden, die sich so vieler bemächtigt, im Sterben eine Lust zu finden. Denn, mein Lucilius, es gibt, wie zu anderen Dingen, so auch zum Sterben einen unüberlegten Hang, der oft edelsinnige Männer von kräftigem Charakter ergreift, oft zagende und kleinmütige Naturen: Jene verachten das Leben, diese drückt es.
(24,26) Quosdam subit eadem faciendi videndique satietas et vitae non odium sed fastidium, in quod prolabimur ipsa inpellente philosophia, dum dicimus 'quousque eadem? nempe expergiscar dormiam, edam esuriam, algebo aestuabo. Nullius rei finis est, sed in orbem nexa sunt omnia, fugiunt ac sequuntur; diem nox premit, dies noctem, aestas in autumnum desinit, autumno hiemps instat, quae vere conpescitur; omnia sic transeunt, ut revertantur. Nihil novi facio, nihil novi video: fit aliquando et huius rei nausia.' Multi sunt, qui non acerbum iudicent vivere, sed supervacuum. Vale!
(26) Einige beschleicht eine Sattheit, immer das selbe zu tun und zu sehen, und sie fühlen nicht Hass als vielmehr Überdruss am Leben. Die Philosophie selbst treibt uns, ihm leicht zu verfallen, indem wir sagen: "Wie lange doch dieses Einerlei? Ich erwache und schlafe; esse und werde wieder hungrig; friere und schwitze; kein Ding hat ein Ende, alles bewegt sich im Kreise, flieht und verfolgt sich. Auf die Nacht kommt der Tag, auf den Tag die Nacht; der Sommer geht über in den Herbst, dem Herbst folgt auf den Fuß der Winter, dem der Frühling sein Ziel setzt. Alles geht vorüber, um wiederzukehren; ich tue nichts Neues, ich sehe nichts Neues: am Ende wird auch dies zum Ekel." Viele gibt es, die es nicht für unerträglich halten zu leben, aber für überflüssig. Lebe wohl!

 

Sententiae excerptae:
Lat. zu "Sen" und "epist.24,"
1188
Scito nihil esse terribile nisi ipsum timorem.
Wisse: die Furcht allein ist es, was schrecklich ist.
nach Sen.epist.24,12

1181
Quid necesse est mala accersere, satis cito patienda, cum venerint, praesumere, ac praesens tempus futuri metu perdere?
Was müssen wir das Schlimme herbeirufen und, was wir früh genug zu leiden haben, wenn es einmal da ist, vorausempfinden und uns so die Gegenwart durch die Angst vor der Zukunft verderben?
Sen.epist.24,1

1182
Est sine dubio stultum, quia quandoque sis futurus miser, esse iam miserum.
Es ist unstreitig töricht, weil man vielleicht einmal unglücklich sein wird, es deswegen jetzt schon zu sein.
Sen.epist.24,1

1186
Multum fuit Carthaginem vincere, sed amplius mortem.
Es war ein Großes, über Karthago zu siegen; noch größer ist es, über den Tod.
Sen.epist.24,10

1187
Adeo mors timenda non est, ut beneficio eius nihil timendum sit.
Der Tod ist so sehr nicht zu fürchten; ja es ist seine Wohltat, dass wir überhaupt nichts zu fürchten haben.
Sen.epist.24,11

1189
Non hominibus tantum sed rebus persona demenda est et reddenda facies sua.
Nicht nur den Menschen, auch den Dingen muss man die Maske herunterziehen und ihr eigenes Gesicht zurückgeben.
Sen.epist.24,13

1190
Pone ista, quae nos obstupefaciunt!
Lege ab, was Schauer erregt!
Sen.epist.24,14

1191
Iube conticiscere gemitus et exclamationes!
Heiße die Seufzer und Jammerrufe schweigen!
Sen.epist.24,14

1192
Quidquid fieri potest, quasi futurum cogitemus.
Alles was geschehen kann, wollen wir uns als bevorstehend denken!
Sen.epist.24,15

1193
Ipsae voluptates in tormenta vertuntur.
Selbst Vergnügungen wandeln sich in Qualen.
Sen.epist.24,16

1194
Ad hoc me natura grave corporis mei pondus adstrinxit.
Die Natur hat mich an dieses schwere Gewicht meines Körpers gefesselt.
Sen.epist.24,17

1195
Nemo tam puer est, ut Cerberum timeat.
Niemand ist Kind genug, sich vor dem Kerberos zu fürchten.
Sen.epist.24,18

1196
Turpe est aliud loqui, aliud sentire.
Es ist schimpflich, anders zu sprechen.
Sen.epist.24,19

1197
Non repente in mortem incidimus sed minutatim procedimus.
Wir versinken nicht plötzlich in den Tod, sondern rücken ihm allmählich entgegen.
Sen.epist.24,19

1183
Si vis omnem sollicitudinem exuere, quidquid vereris, ne eveniat, eventurum utique propone!
Wenn du dich aller Bekümmernis entledigen willst, so stelle dir alles, was du befürchtest, als wirklich bevorstehend vor!
Sen.epist.24,2

1184
Numquid ultra quicquam ulli timendum est, quam ut uratur, quam ut pereat?
Was muss einer mehr fürchten, als dass man ihn auf glühende Kohlen legt, dass man ihn umbringt?
Sen.epist.24,2

1198
Cotidie morimur.
Wir sterben täglich.
Sen.epist.24,20

1199
Hunc ipsum, quem agimus, diem cum morte dividimus.
Selbst diesen Tag, an dem wir leben, teilen wir mit dem Tod.
Sen.epist.24,20

1200
Clepsydram non extremum stilicidium exhaurit.
Es ist nicht der letzte Tropfen, der die Wasseruhr leer macht.
Sen.epist.24,20

1201
Mors non una venit, sed, quae rapit ultima, mors est.
Nicht nur ein Tod kommt, Tod ist, der uns hinrafft als letzer.
Sen.epist.24,21

1202
Ridiculum est currere ad mortem taedio vitae, cum genere vitae, ut currendum ad mortem esset, effeceris.
Es ist lächerlich, aus Lebensüberdruss in den Tod zu eilen, wenn man es durch die Art seines Lebens dahin gebracht hat, dass man in den Tod eilen muss.
Sen.epist.24,22 (nach Epikur)

1203
Quid tam ridiculum quam adpetere mortem, cum vitam inquietam tibi feceris metu mortis?
Was ist so lächerlich, als nach dem Tod zu verlangen, nachdem man sich durch die Furcht vor dem Tod ein unruhiges Leben gemacht hat?
Sen.epist.24,23 (nach Epikur)

1204
Vir fortis ac sapiens non fugere debet e vita sed exire.
Der mutige und weise Mann soll nicht aus dem Leben fliehen, sondern gehen.
Sen.epist.24,25

1205
Est, ut ad alia, sic etiam ad moriendum inconsulta animi inclinatio.
Es gibt, wie zu anderen Dingen, so auch zum Sterben einen unüberlegten Hang.
Sen.epist.24,25

1206
Quousque eadem?
Wie lange doch dieses Einerlei?
Sen.epist.24,26

1207
Nullius rei finis est, sed in orbem nexa sunt omnia.
Kein Ding hat ein Ende, alles bewegt sich im Kreise.
Sen.epist.24,26

1185
Numquid accidere tibi, si damnaris, potest durius, quam ut mittaris in exilium, ut ducaris in carcerem?
Wirst du verurteilt, was kann dir Härteres begegnen, als in die Verbannung geschickt oder in das Gefängnis gebracht zu werden?
Sen.epist.24,3


Literatur:
zu "Sen" und "epist.24,"
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