Q.Horatii Flacci
carmina
liber primus
Hor.c.1,14: Dem Staatsschiff droht Schiffbruch
1
2
3
5
|
O navis, referent in mare te novi fluctus. o quid agis? fortiter occupa
portum. nonne vides, ut
nudum remigio latus
|
Soll dich wieder, o Schiff, tragen ins Meer die Flut! O was hast du im Sinn? Standhaft behaupte den
Hafen! Siehest du nicht, wie
Deine Seite von Rudern leer,
|
5
6
7
8
|
et malus celeri saucius Africo
antemnaeque gemant ac sine funibus
vix durare carinae
possint imperiosius
|
Segelstangen und Mast seufzen, verwundet vom Schnellen Afrikus? und kaum ohne Taue des
Meers gebietrische Wogen
Zu bestehen dein Kiel vermag?
|
9
10
11
12
|
aequor? non tibi sunt integra lintea, non di, quos iterum pressa voces malo.
silvae filia nobilis,
|
Unbeschädiget ist keins deiner Segel, auch Götter hast du nicht mehr, welchen du flehst im Drang;
Oh du, pontische Fichte,
Tochter eines gepriesnen Hains,
|
13
14
15
16
|
iactes et genus et nomen inutile:
nil pictis timidus navita puppibus
fidit. tu nisi ventis
debes ludibrium, cave.
|
Dich gleich rühmest umsonst deines Geschlechts und Rufs: Der erschrock'ne Pilot traut dem gemalten Schiff
Nie: drum hüte dich, willst du
Nicht ein Kurzweil der Winde sein.
|
17
18
19
20
|
nuper sollicitum quae mihi taedium, nunc desiderium curaque non levis,
interfusa nitentis
vites aequora Cycladas.
|
Du noch jüngst mein Verdruss und meine Kümmernis, Jetzt meins sehnlicher Wunsch und meiner Sorge Ziel;
Fleuch die Meeresflut, welche
durch die hellen Cycladen tobt.
|
|
|
|
|
Übersetzung:
K.F.Preiß
|
|
Weitere Üb.: Färber (31) | R.A.Schröder (23) | J.H.Voss, 15 |
- o
navis - Personifizierung | navis - allegorisch (vgl. Quint.inst.8,6,44: "Allegoria, quam inversionem interpretantur, aut
aliud verbis, aliud sensu ostendit, aut etiam interim contrarium.
Prius fit genus plerumque continuatis tralationibus, ut O navis,
referent in mare te novi fluctus: o quid agis? Fortiter occupa
portum, totusque ille Horati locus, quo navem pro re publica,
fluctus et tempestates pro bellis civilibus, portum pro pace
atque concordia dicit. (Die Allegorie, in lateinischer Übersetzung
'inversio', drückt mit bestimmten Worten einen anderen,
bisweilen sogar entgegengesetzten Sinn aus. Die erstere Art
erfolgt in der Regel durch fortgesetzte Metaphern, wie z.B.
'O Schiff, werden dich neue Fluten ins Meer zurücktrieben:
wehe,was tust du? Laufe entschlossen den Hafen an', und jene
ganze Horazstelle, an der 'Schiff' für 'Staat', 'Fluten
und Sturm' für 'Bürgerkriege' und 'Hafen' für
'Frieden und Eintracht' sagt."
- o
quid agis - was tust du >Unsinniges>? | fortiter - entschlossen | occupare - h. ansteuern, anlaufen, zu gewinnen suchen
- videre = <oculis suis> animadvertere - mit eigenen Augen bemerken (dazu zeugmatisch ut antemnae gemant) | nonne vides - rhetorische Frage (statt Aufforderung)
- nudus + Abls.sep. - entblößt von | remigium, ii, n - Ruderwerk | latus, eris, n - Seite, Flanke
- mālus,
i, m - Mastbaum | saucius, a, um - verwundet, beschädigt | Africus
- antemna,
ae, f - Segelstange, Rahe ("Antenne") | funis,
is, m - Tau
- durare - standhalten, widerstehen | carina, ae, f - Kiel, Schiff (pars
pro toto)
- imperiosus,
a, um - herrisch, gebieterisch
- integer,
ra, rum - unberührt, unversehrt | linteum,
i, n - Leinentuch, Segel
- non
di <sunt tibi integri> (geschnitzte Götterfiguren, die als Verzierung und zum Schutz am Schiff angebracht sind) | itetum - noch einmal (= iterum iterumque) | pressa
malo - niedergedrückt von (unter der Last) der Not | voces - konsek.
Konj. im Relativsatz
- pinus,
us, f - Pinie, Fichte (Die Fichte vom Schwarzen Meer lieferte gutes Schiffbauholz
- nobilis - ("stolz") zu silvae
- iactare
aliquid - mit etwas prahlen, sich brüsten wegen | nomen inutile - nomen emphatisch: "bedeutender, ruhmreicher Name", dazu antithetisch (oxymorisch) inutile: der dir jetzt trotzdem nichts nützt
- nil - adv.Akk. zu fidit | pictus, a, um - bunt bemalt | navita,
ae, m = nauta, ae, m (kollektiver Sgl.) | puppis,
is, f - Heck, Schiff (pars
pro toto): poetischer Plural
- fidere,
o, fisus sum - vertrauen | nisi ludibrium
debes - wenn du nicht zum Spielball werden sollst
- ludibrium,
ii, n - Spott, Spielball
- nuper - kürzlich noch | sollicitus, a, um - heftig erregt, h. aktivisch: beunruhigend | taedium,
ii, n - (Anlass zum) Ekel, Überdruss
- desiderium,
ii, n - (Gegenstand der) Sehnsucht
- interfusus + Akk. = fusa inter - hinströmend zwischen | nitere,
eo - glänzen, strahlen
- vites - iussivus oder optativus
Aufgabenvorschläge:
1. Fertigen Sie eine Skizze an, aus der das Geflecht der immanenten
Bezüge (der "strukturierenden Korresondenzen") sichtbar
wird!
2. Rekonstruieren Sie aus den Fragen und Appellen des Dichters
die konkrete Sprechsituation, die dem Gedicht zugrunde liegt!
In welcher lokalen Zuordnung befinden sich Dichter und Schiff?
- Der Dichter erscheint distanzierter vom Schiff, als es die Größe der Gefahr und das hohe Maß an innerer Betroffenheit vermuten lassen. Er scheint sich nicht auf dem Schiff zu befinden (wie Alkaios in den vergleichbaren Gedichten). Er scheint trotz seines hohen Interesses an der Rettung des Schiffes und seiner gefühlsmäßigen Bindung (taedium,... desiderium curaque 17f.) persönlich nur indirekt gefährdet, so dass die lyrische Sprechsituation dadurch in die Richtung der epischen Erzählsituation geht. Doch versteht man, wie notwendig, das Gedicht als Allegorie, so steht der Dichter mitten im gefahrvollen Geschehen, selbst betroffen und bedroht.
3. Durch welche stilistischen Mittel erzielt der Dichter (besonders
am Anfang) das hohe Maß von Emphase und subjektiver Emotionalität? 4. Welche Appelle richtet der Dichter an das Schiff und welche
Bedeutung haben sie für die Struktur des Gedichtes?
- Appelle:
- o quid agis? (2): Ein eindringliches Wachrütteln. Aufforderung zum Umdenken und zur Umkehr
- fortiter occupa | portum (2/3)
- nonne vides? (3): rhetorische Frage statt des Imperativs
- cave (16)
- vites aequora (20)
- Komposition: Die Appelle bilden Anfang und Schluss des Gedichtes. Den längeren Zwischenteil füllt der Hinweise auf die drohenden Zeichen der Zerstörung, die das Schiff zu übersehen droht. Sie begründen die Unausweichlichkeit und Dringlichkeit der Appelle.
5. An welchen Stellen dringen die Zeitstufen der Vergangenheit
oder der Zukunft in die Gegenwart der Sprechsituation
ein?
- novi | fluctus (2/3): verweist (ebenso wie iterum, 10) auf einen früheren Sturm, den das Schiff zu bestehen hatte;
- vix durare (7): Hinweis auf die unmittelbar bevorstehende Katastrophe;
- iterum (10): das Schiff hat in ähnlicher Situation schon einmal die Götter angerufen;
- silvae filia nobilis (12): die stolze Vergangenheit ist nur noch eitel Schein, leeres Prunken;
- tu nisi ventis | debes ludibrium, cave (15f.) - der glanzvollen Vergangenheit steht antithetisch eine bedrohliche Zukunft entgegen;
- nuper sollicitum quae mihi taedium (17): Rückverweis auf den früheren Sturm (2/3);
- nunc desiderium curaque non levis (18);
Für den Lyriker ist Vergangenheit nur in ihrem Gegenwartsbezug von Bedeutung. Die Appelle drängen alle auf unmittelbare Verwirklichung. An ihnen vorbei hat das Schiff keine Zukunft.
6. Vergleichen Sie das Gedicht Alk.46aD (und Alk.119D-122D)!
In welcher Hinsicht dient das Gedicht Horaz als Vorlage?
7. Bezeichnet der Wechsel taedium - desiderium, cura (17f) eine
postitive oder negative emotionale Wendung? Wie könnte
man sie sich konkret vorstellen?
8. Versuchen Sie, die Ode zu gliedern!
Einen Vorschlag findet man bei Numberger, 68f.:
- 1-3: occupa-Teil: Eindringlicher Appell an das Schiff in Form von Fragen und Imperativ (occupa)
- 3-16: cave-Teil: Der bedrohliche Zustand des Schiffes und erneute Aufforderung (cave)
- 3-10: Eindringliche Hinweise (nonne vides?) auf die Seeuntüchtigkeit und Gottverlassenheit des Schiffes.
- 11-15: Der Stolz (silvae filia nobilis, 12; genus et nomen, 13) und Glanz (pictae puppes, 14) der Vergangenheit nutzen nichts mehr (inutile).
- 15-16: Ihnen kontrastiert die Gefahr, den Winden ein delubrium zu werden: cave!
- 17-20: vites-Teil: Abschließende Aufforderung (vites) aufgrund des persönlichen Bezuges (taedium - desiderium - cura)
9. Das Gedicht gilt als das klassische Beispiel für eine Allegorie.
Wie funktioniert eine Allegorie, welche Vorzüge verschafft sie
einem Gedicht?
10. Da die Allegorie ein "Additionsgefüge in sich konsistenter
Metaphern" ist, stellt sich die Aufgabe, dieses "Gefüge"
in seine einzelnen Elemente aufzulösen. Im Groben werden sie
bereits von Quintilian genannt: 'Schiff' für 'Staat', 'Fluten und Sturm' für
'Bürgerkriege' und 'Hafen' für 'Frieden und Eintracht'.
Schiff (o navis, 1) |
Staat |
|
- Steuerlosigkeit (nudum remigio latus, 4)
|
(Unregierbarkeit) senatus populusque Romanus
|
Getriebensein (referent te, 1) <--> Gegensteuern (fortiter occupa! 2) |
|
|
rowspan="5">Auflösung der technischen Funktionseinheit Schiff <--> Versagen der staatlichen Organe |
- Segelstangen (antemnae, 6)
|
|
|
- Schiffstaue (sine funibus, 6)
|
|
|
- Kiel (vix durare carinae, 7f.)
|
|
|
- Segel (non integra lintea, 9)
|
|
|
- Gottverlassenheit (non di, quos voces, 10)
|
(Abwendung der Götter von
Rom)
|
|
- Herkunft (Pontica pinus, 11; filia nobilis,12; genus et nomen, 13)
|
(Wirkungslosigkeit der
ruhmvollen Herkunft und Vergangenheit Roms, der früheren
Stabilität seines imperiums)
|
Edle Herkunft <--> Wirkungslosigkeit |
|
(Verlust des Vertrauens
in Glanz und Größe)
|
|
Meer |
|
|
- 'Fluten und Sturm' (novi fluctus, 1f.) (celeri Africo, 5)
- erneutes Ausfahren (referent, 1)
- (imperiosius aequor, 8f.)
|
('Bürgerkriege')
- die frühere Phase (Caesar <--> Pompeius)
- die gegenwärtige (Marcus Antonius <-->
Octavianus)
|
|
'Hafen' |
('Frieden und Eintracht')
|
|
|
|
|
11. Wie würde das Gedicht wirken, wenn es keine allegorische Sinnebene
hätte?
- "Sinn gibt das Gedicht erst, wenn man es allegorisch liest, wenn man also unterstellt, dass es aliud
verbis aliud sensu ostendit. Nähme man es nut wörtlich, so bliebe es ein überaus maniriertes Produkt, in welchem der Dichter aus unerfindlichen Gründen darauf besteht, ein Schiff durchgängig anzureden und nicht davon abzugehen, dass es ein vernünftiges und persönliches Wesen sei." (W.Killy , Elemente, S.120.)
- Andererseits haben namhafte Philologen wie Bentley das allegorische Verständnis abgelehnt.
- E.Fraenkel, S.183ff. erörtert die Frage unter Hinweis auf den Anfang der letzten Strophe (nuper taedium,
nunc desiderium) im Sinne der Allegorese.
Sententiae excerptae:Lat. zu "Hor.c.1,14,"
1636
Iactes et genus et nomen inutile.
Umsonst rühmst du dich deines Geschlechts und deines Namens.
Hor.c.1,14,13
Literatur:zu "Hor.c.1,14,"
3396
Fraenkel, E.
Horaz
Darmstadt (WBG) 1963
4263
Horaz / Krüger
Des Q. Horatius Flaccus Sämtliche Werke für den Schulgebrauch erklärt:
I. Teil: Oden, Epoden, v. C.W.Nauck u. O. Weißenfels
II. Teil: Satiren und Epistel. (1. Satiren, 2. Epistel), von G.T.A.Krüger
Leipzig / Berlin (Teubner) 15/1904
3384
Horaz / Obbarius, Th.
Q.Horatii Flacci Opera omnia, lat. - Horaz' Sämtliche Werke, in metrischen Übersetzungen, ausgewählt von Th. Obbarius
Paderborn (Schöningh) 3/1872
3389
Horaz / Schröder, R.A.
Die Gedichte des Horaz, deutsch von Rudolf Alexander Schröder. Geamtausgabe Oden, Carmen saeculare, Epoden
Wien (Phaidon) 1935
4262
Horaz / Schulze
Horaz, Auswahl für den Schulgebrauch v. Dr. K.P.Schulze
I.: Text
II: Anmerkungen
Berlin, Weidmann, 1904
3390
Horaz / Voß, J.H.
Horaz. Sämtliche Werke; übersetzt von J.H. Voss
Leipzig (Reclam) o.J.
3379
Hundhausen, V.
Die Oden des Horaz in deutscher Sprache von Vincenz Hundhausen, mit einem Titelbild von Grunenberg
Berlin (Borngräber) o.J.
3380
Kiessling / Heinze
I: Horaz, Oden und Epoden, erklärt von A.Kiessling, neunte Aufl. besorgt v. R.Heinze, mit einem Nachwort und bibliograph. Nachträgen von E.Burck
II: Satiren, erklärt von A.Kiessling, siebente Aufl. besorgt v. R.Heinze, mit einem Nachwort und bibliograph. Nachträgen von E.Burck
III: Briefe.
Berlin (Weidmann) 9/1958; 7/1959; 6/1959
3660
Nisbet, R.G.M. / Hubbard, M.A.
A Commentary on Horace, Odes Book I.
Oxford 1970
3383
Numberger, K.
Horaz, Lyrische Gedichte, Kommentar für Lehrer der Gymnasien und für Studierende
Münster (Aschendorff) 1972
3386
Plankl, W.
Quintus Horatius Flaccus, Gedichte und Lieder. Eine Auswahl (deutsch) hg. und mit einem Nachwort versehen v. Wilhelm Plankl
Stuttgart (Reclam) 1967
3387
Röver-Oppermann
Lehrerkommentar zu Horaz
Stuttgart (Klett) o.J.
2983
Salomon, Franz (Hg.)
Auswahl aus römischer Dichtung. Mit Einleitung, Metrik und Namensverzeichnis hg. (Catullus, Tibullus, Propertius, Horatius, Lucretius)
München, G.Freytag 8/o.J.
3401
Syndikus, H.P.
Die Lyrik des Horaz, Eine Interpretation der Oden, Bd- I/II
Darmstadt (WBG) 1972/1973
2962
Wegner, Norbert (Hg.)
Römische Dichtung : Auswahl aus Lukrez, Catullus, Vergilius, Horatius [Horaz], Tibullus, Propertius [Properz], Ovidius. Text und Anmerkungen.
Stuttgart : Klett, (Litterae Latinae ; 3.) 1984
3402
Wili, W.
Horaz und die augusteische Kultur
Basel (Schwabe) 1965 [Ndr.: Darmstadt (WBG)]
- /Lat/hor/horc114.php - Letzte Aktualisierung: 17.07.2024 - 15:59