9.0 Aristoteles überliefert von Thales zwei philosophische
Aussagen: „Thales ... nennt das Wasser archê" und „Thales
glaubte, dass alles von Göttern voll sei."
Aber weder stellen die bekannten Darstellungen der Geschichte der
Philosophie einen befriedigenden Zusammenhang zwischen den beiden
Aussagen von Thales her, noch machen sie hinreichend plausibel,
warum Thales mit diesen beiden Philosophemen oder auch nur einem
davon zu den Gründervätern der (westlichen) Philosophie
zu rechnen sei.
9.0.1 Bewertung des Thales durch Hegel: Hegel nimmt zwar
einerseits Aristoteles als glaubwürdige Quelle, andererseits
ignoriert er einfach den von Aristoteles überlieferten Gedanken
von Thales, dass „alles von Göttern voll sei".
Hegel konstatierte: „Dass das Wasser das archê sei, ist die ganze
Philosophie des Thales." Dabei fragt er sich und uns zu
recht: „Inwiefern ist dies wichtig...?" Er gibt als
Antwort:„Der Thaletische Satz, dass das Wasser das Absolute ...
sei, ist philosophisch; die Philosophie beginnt damit, weil es damit
zum Bewusstsein kommt, dass Eins das Wesen, das Wahrhafte ... ist." Thales setzte das Wesen, das Wahrhafte der ganzen Welt in eine
Sache: Wasser. Das ist nach Hegel philosophisch. Damit sieht Hegel
das Philosophische mehr in der Form dieser Aussage als in ihrem
Inhalt. Welchen Unterschied hätte es gemacht, wenn Thales gesagt
hätte „der Mist ist archê" oder wenn heute jemand
sagt: „Geld regiert die Welt"? Auch in diesen beiden
Sätzen wird die ganze Welt von einer einzelnen Sache abhängig
gemacht. Auch durch solche Sätze wird „Eins als das Wesenhafte,
das Wahrhafte" gesetzt, wie Hegel sagt. Niemand wird aber
ernsthaft behaupten, dass es sich dabei um philosophische Aussagen
handelt.
9.0.2 Bewertung des Thales durch Bertrand Russel und andere: Bertrand Russel begann ebenfalls seine Philosophiegeschichte
mit Thales: „Die Philosophie und die exakte Wissenschaft begann
mit Thales von Milet im 6. Jahrhundert vor Christus." Einerseits
grenzte Russel ebenso wie Hegel den Thales'schen Satz über
die Götter aus: „Eine weitere Feststellung aber, alle Dinge
seien voll von Göttern, muss als fraglich betrachtet werden."
„Die wichtigste Ansicht Thales' ist die Behauptung, die Welt sei
aus Wasser entstanden." Andererseits führte er als
Kriterium für den Anfang des philosophischen Denkens an: „Das
Aufwerfen allgemeiner Fragen ist .... der Anfang der Philosophie
und der Wissenschaft."
Tatsächlich hinterließ uns Thales nicht eine „allgemeine
Frage", sondern eine Antwort mit einer Aussage, mit der gebildete
Leute nur wenig anzufangen wissen, und von der ungebildete Leute
sagen werden, sie sei falsch. Bertrand Russel schwankte zwischen
beidem: Erst verengte er den Satz von Thales, das Wasser sei archê,
in die Aussage, „die Welt sei aus Wasser entstanden",
dann verbog er die Thales'sche Aussage über das Wasser bis
zur Unkenntlichkeit in eine Aussage über Wasserstoff: „Wasserstoff,
der die meisten Atome zum Aufbau des Wassers liefert (sic!),
wird heute für das chemische Element gehalten, aus dem alle
übrigen künstlich hergestellt werden können."
„ Nachdem B. Russel so das Philosophem von Thales bis zur Unkenntlichkeit
entstellt hatte, bezeichnete er es letztendlich nur noch als „achtbare
wissenschaftliche Hypothese". Dann ist der Satz von Thales
bestenfalls eine Aussage mit begrenzter Reichweite und schlimmstenfalls
eine falsche Aussage. Macht das Thales zum Philosophen?
Hans Joachim Störig drückte sich in seiner „Kleinen Weltgeschichte
der Philosophie" um eine Bewertung der philosophischen Aussagen
des Thales, indem er erst die Autorenschaft des Thales in Frage
stellt: „dass das Wasser der Urstoff sei, aus dem alles hervorgegangen
ist - das wird neuerdings seinem Nachfolger zugeschrieben",
um anschließend so zu tun, als sei mit der Infragestellung
der Autorenschaft dieser Sätze auch ihr Inhalt erledigt. Störig
erwähnte auch beim „Nachfolger" des Thales dieses Philosophem
nicht und ersparte sich damit jede inhaltliche Diskussion.
Um die beiden Sätze von Thales und seine Stellung in der Philosophiegeschichte
bewerten zu können, müssen wir zunächst zu klären
versuchen, was Thales unter „archê" verstanden hat.
9.1 archê-Denken
9.1.0 In der lateinisch geprägten Philosophietradition
wird archê gewöhnlich als „Prinzip" übersetzt, aber
dieses Wort hat eine so lange und komplizierte Bedeutungsgeschichte,
dass mit unserem heutigen Verständnis von „Prinzip", die
Aussage „Wasser ist das Prinzip" überhaupt keinen Sinn
macht.
Bei Hegel finden wir „archê" in mehrfacher Bedeutung: „Es
ist das absolute Prius.", „das Absolute oder, wie die Alten
sagten, das Prinzip...", „Urwesen", „ein Erstes,
woraus das Andere hervorgehe..." Alle diese Bedeutungen
werden von Hegel unterschiedslos und nebeneinander gebraucht.
Das Grimm‘sche Wörterbuch führt zwar noch die Bedeutung
„Grundursache" neben „Grundregel" und „Grundsatz"
an, aber die Textbeispiele, die dann angeführt werden, belegen
„Prinzip" nur aus dem menschlich-ethischen Bereich. Menschen
haben Prinzipien oder auch nicht, wie aber kann Wasser ein „Prinzip"
sein?
9.1.1 archê bei Aristoteles: Aristoteles gibt uns im 5.
Buch seiner „Metaphysik" eine ausführliche Darstellung,
was in der griechischen Tradition unter dem Begriff „archê"
zu verstehen sei:
„(1.) archê wird erstens das bei einer Sache genannt, von woher
einer zuerst eine Bewegung beginnt; z.B. bei der Linie und dem Weg
ist von der einen Seite dies, von der entgegengesetzten das andere
archê. (2.) Ferner heißt archê dasjenige, von dem aus etwas
am besten entstehen kann: So muss man z. B. beim Unterricht oft
nicht vom Ersten und vom archê der Sache ausgehen, sondern von wo
aus man am leichtesten lernen kann. (3.) Ferner heißt archê
der immanente Teil, von welchem zuerst die Entstehung ausgeht; z.B.
wie bei dem Schiff der Kiel oder bei dem Haus der Grund archê in
diesem Sinne ist, so nehmen bei den Tieren einige das Gehirn, andere
das Herz, andere irgendeinen anderen Teil dafür. (4.) Dann
dasjenige, von welchem als nicht immanenten Teil die Entstehung
eines Dinges anfängt und von welchem, dem natürlichen
Verlauf gemäß, die Bewegung und Veränderung zuerst
beginnt; so entsteht das Kind von Vater und Mutter, die Schlacht
aus dem Streit. (5.) Ferner heißt archê dasjenige, nach dessen
Entschlusse das Bewegte sich bewegt und das Sich-Verändernde
sich verändert; in diesem Sinne werden die Ämter in den
Staaten und die Regierungen der Herrscher, Könige und Tyrannen
archai ... genannt, und (6.) auch die Künste und unter ihnen
am meisten diejenigen, welche für andere Künste Anleitung
geben. (7.) Ferner dasjenige, wovon man in der Erkenntnis des Gegenstandes
ausgeht, denn auch dies wird archê des Gegenstandes genannt; z.B.
die Voraussetzungen (Prämissen) der Beweise. (b) In gleich
vielen Bedeutungen wird auch der Begriff Ursache gebraucht; denn
alle Ursachen sind archai. (c) Allgemeines Merkmal der archai in
allen Bedeutungen ist, dass es ein Erstes ist, wovon her etwas ist,
wird oder erkannt wird."
9.1.2 Zur besseren Übersicht habe ich die Aussagen
des Aristoteles nach Wirklichkeitsbereichen geordnet und in der
folgenden Tabelle dargestellt.
Was bezeichnet Aristoteles als „archê"?
(geordnet nach Wirklichkeitsbereichen)
Wenn man davon ausgeht, dass der Begriff „archê" innerhalb
der natürlichen Umwelt früher verwendet wurde, bevor er
auf die soziale Umwelt des Menschen und dann auf die Gedankenwelt
metaphorisch übertragen wurde, kann man die Reihenfolge der
Tabelle von oben nach unten auch als zeitliche Folge der Bedeutungsgeschichte
des Wortes archê lesen, wobei durch Übertragung in immer neue
Wirklichkeitsbereich immer neue und zusätzliche Bedeutungen
des Wortes geschaffen worden sind. Wahrscheinlich ist, dass das
Wort „archê" zuerst im biologisch-natürlichen Bereich
verwendet wurde: Die Eltern sind hier die archê des Kindes, nach
griechischer Vorstellung war ein Embryoorgan (das Herz oder das
Hirn) die archê eines Tieres. In diesem Bereich bedeutet archê nicht
nur der Beginn, sondern eigenschöpferischer Ursprung einer
Sache. Übertragen auf den sozialen Bereich ist die Regierungsgewalt
eines Staatengründers die alles bestimmende archê einer politischen
Gemeinschaft, also nicht nur der Ausgangspunkt eines Staates, sondern
auch der Wille, der die politischen Geschicke des Staates weiter
steuert und dominiert.
Beim Weg und seinem Ausgangspunkt ist archê auf einen beliebigen
Beginn verengt, der von beiden Enden beginnen kann. Wird der Weg
abstrahiert zur Linie, dann sind die beiden Anfangspunkte die archê
dieser Linie. Auch hier gibt es nicht einen, sondern zwei archê
einer Sache. Metaphorisch übertragen auf den handwerklichen
Bereich ist das Fundament die archê eines Gebäudes und der
Kiel die archê eines Bootes. Eine letzte Abstraktionsstufe bedeutet
die Anwendung von archê in der Gedankenwelt des Menschen: Prämisse
als Voraussetzung oder archê einer Erkenntnis.
Als allen archê gemeinsam hob Aristoteles hervor, dass die archê
ein Früheres ist gegenüber dem Folgenden: „Allgemeines
Merkmal der archai in allen Bedeutungen ist, dass es ein Erstes
ist, wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird." In dieser
Subsummierung gehen allerdings wichtige, und vielleicht die frühesten
Bedeutungsmerkmale von archê verloren: dass die archê eine Sache
im wesentlichen von innen heraus hervorbringt und dass archê die
Sache (als Stammvater oder als Regierender) auch nach dieser Schöpfung
noch bestimmt und dominiert.
9.1.3 Als vorläufiges Resultat halte ich fest:
Erstens: archê-Denken ist landwirtschaftlich-biologistisch:
Die verändernden Kräfte liegen innerhalb einer Sache.
In diesem Sinn hat der Satz: „Das Wasser ist archê der Welt"
die Bedeutung, dass aus Wasser „alles entstanden ist" wie „alle Lebewesen aus nassem Samen entstanden sind". Alles
ist aus Wasser als seinem innerem Wesen entsprungen, nicht durch
eine Schöpfertat von außen.
Hier liegt auch der Zusammenhang zu dem anderen Satz von Thales, „alles sei voll von Göttern". Das frühe landwirtschaftlich-biologistisch
geprägte Denken der Menschen verlegte alle schöpferische
Kraft in die Natur und die Dinge selbst. „Alles ist voll von
Göttern" heißt so viel wie: Allen Dingen wohnt
eine verändernde Kraft inne oder - wie man sich später
ausdrückte - eine „Seele". Laut Aristoteles sagte Thales
auch, „der Magnetstein habe eine Seele, weil er das Eisen bewege." Zweitens: archê-Denken ist aristokratisch-genealogisch: Die
Herkunft oder Abstammung einer Sache bestimmt ihr Wesen. archê-Denken
fragt gewissermaßen nach dem „Stammvater" oder der Abstammung
eines Dinges oder Menschen. In diesem Sinn sagt der Thales’sche
Satz über das Wasser als archê, dass Wasser von allem das Lebenselement
ist, „durch das alles lebt", weil Wasser „die Nahrung
aller Lebewesen feucht (oder wasserartig) ist".
In der aristokratisch-genealogischen Denktradition haben aber alle
gemeinsame Abkömmlinge dasselbe Wesen wie ihr Stammvater. Auch
Aristoteles steht in dieser Tradition, wenn er sagt: „Auch ist
anzunehmen, dass die Söhne besserer Väter besser sind.
Denn der Adel ist eine Tugend des Geschlechts." Wenn aber
alle Abkömmlinge einer Sache dasselbe Wesen haben, dann gibt
es eigentlich keine Änderung, keinen Wandel. Es ist eine konservativ-statische
Weltsicht. Das hat schon Aristoteles erkannt und kritisiert, der
nicht nur über Thales sondern die griechischen Naturphilosophen
insgesamt urteilt: „Darum nehmen sie auch kein Entstehen und
Vergehen an, indem ja diese Wesenheit stets beharre." Und
Hegel, für den „Form" gleich Vielfalt bedeutete, monierte: „Dem Thales'schen Wasser fehlt die Form."
Drittens: archê-Denken ist patriarchalisch: Das Ältere,
Frühere dominiert das Spätere und Jüngere, wie die
Eltern das Kind dominieren und der Herrscher einen Staat. Nach Aristoteles
soll diese Denktradition, die das Wasser als archê der Welt ansah,
auch die Götter, die Menschen und Welt beherrschen, zu Nachfahren
des Wassers erklärt haben.
Dass uns heute der Satz von Thales: „Das Wasser ist archê" nichts mehr sagt, liegt daran, dass wir in anderen Denkkategorien
zu denken gewohnt sind. Wir sind nicht mehr gewohnt bei einem Sachverhalt
das Wesentliche in seiner Vergangenheit zu suchen, sondern suchen
das Wesen einer Sache in ihren gegenwärtigen Eigenschaften.
Und die Kräfte der Veränderung einer Sache suchen wir
nicht unbedingt innerhalb dieser Sache, sondern außerhalb
und nennen das dann „Ursache".
Allerdings enthält auch das deutsche Wort mit der Vorsilbe
„Ur-" als „historischer Anlass einer Sache" noch Aspekte
des griechischen „archê". Aber das Ursachendenken ist doch
etwas wesentlich Neues und es hatte schon in der Zeit des Thales
das „archê-Denken" zu überlagern und abzulösen begonnen.
Aristoteles beendete seine Darstellung des archê-Denkens mit der
Feststellung: „Alle Ursachen sind archê". Er setzte
also den Begriff „Ursache" als bekannt und üblich voraus,
so dass er damit den altertümlichen Begriff „archê" erläutern
konnte.
Haben wir erst die aristotelische Vorstellung von „Ursache"
näher erläutert, dann werden die Unterschiede zum archê-Denken
noch deutlicher.
9.2 Das Ursachendenken
9.2.1 „Ursache" bei Aristoteles
Aristoteles beschreibt die Bedeutungen von „Ursache" wie folgt:
„Ursache wird (1.) in einer Bedeutung der immanente Stoff genannt,
woraus etwas wird; so ist das Erz der Bildsäule, das Silber
der Schale Ursache ... ; (2.) in einer anderen Bedeutung heißt
Ursache die Form und das Musterbild ... z.B. Ursache der Oktave
das Verhältnis von Zwei zu Eins und allgemeiner die Zahl, wie
auch die in dem Begriff enthaltenen Bestandteile. (3.) Ferner heißt
Ursache dasjenige, wovon her die Veränderung oder die Ruhe
ihren ersten Anfang nimmt; so ist z.B. der Beratende Ursache, oder
der Vater Ursache des Kindes, und überhaupt das Hervorbringende
Ursache des Hervorgebrachten, das Verändernde Ursache des Veränderten.
(4.) Ferner heißt etwas Ursache als Zweck, d.h. als dasjenige,
worum willen etwas geschieht; in diesem Sinne ist die Gesundheit
Ursache des Spazierengehens. Denn auf die Frage, weshalb jemand
spazierengeht, antworten wir: um gesund zu werden, und glauben mit
dieser Antwort die Ursache angegeben zu haben. ... In so vielen
Bedeutungen werden ungefähr die Ursachen genannt. Da sie in
mehreren Bedeutungen vorliegen, ergibt sich, dass dasselbe Ding
mehrere Ursachen haben kann... So ist z.B. von der Bildsäule
sowohl die Bildnerkunst als auch das Erz Ursache, ... das eine als
Stoff, das andere als Ursprung der Bewegung... Alle bisher erwähnten
Bedeutungen von Ursachen fallen sehr deutlich unter vier Hauptklassen.
Denn die Buchstaben sind Ursachen für die Silben, der Stoff
für das daraus Gefertigte, ... insofern sie das sind, woraus
etwas wird... Der Same aber und der Arzt und der Beratende und überhaupt
das Hervorbringende, diese alle sind Ursache in dem Sinne, dass
von ihnen der Anfang der Bewegung oder der Ruhe ausgeht. Anderes
endlich ist Ursache als der Zweck für das Übrige und als
das Gute, denn dasjenige, worum willen etwas geschieht, soll ...
der Zweck des übrigen sein. Ursachen sind also diese und so
viele der Art nach."
Teilweise überschneidet sich diese Beschreibung von „Ursache"
noch mit der Darstellung des Begriffs „archê". Das ist mindestens
dort der Fall, wo Aristoteles gleichartige Beispiele wählt:
Der Vater wird als Ursache des Kindes beschrieben, er könnte
aber auch als archê des Kindes gelten. Ebenso könnte das Verhältnis
von Zwei zu Eins als archê der Oktave gelten, jedenfalls innerhalb
der pythagoreischen Denktradition, die die Existenz von Zahlen und
Zahlenverhältnissen als zeitlich früher gegenüber
der Existenz von Tönen und anderen Sachverhalten ansah.
9.2.2 Was ist bei Aristoteles neu?
Spätestens mit seinem vierten Satz, der Einführung des
Begriffes „Zweck" als Ursache, verlässt Aristoteles aber
das archê-Denken, das das Frühere einer Sache als bestimmend
gegenüber dem Späteren sah. Ein Zweck ist etwas Späteres,
das erst noch erreicht werden soll. Sobald ein Zweck als Ursache
angesehen wird, haben wir den Bereich der natürlich-biologischen
Umwelt verlassen und befinden uns im Bereich des menschlichen Handelns,
genauer innerhalb der Sphäre der handwerklich-technischen Arbeit.
Wo Aristoteles über das Denken in der archê-Kategorie hinausgeht,
hat er die menschliche Arbeitssphäre vor Augen, also einen
vierfachen Komplex von handelndem Arbeiter (Person), Material (Stoff),
Mittel (Werkzeug) und Zweck (Plan). Vergleiche folgende Tabelle:
Tabelle: Was nach Aristoteles als Ursache zusammenwirkt:
„Ursache" erklärt laut Aristoteles eine eintretende Veränderung.
Im biologistischen Denken liegt der Anstoß der Veränderung
wesentlich innerhalb einer Sache. Im handwerklich-technischen Denken
liegt sie außerhalb der Sache, die jetzt zum Objekt wird: „Ich meine z. B. so: Das Holz und das Erz sind nicht die Ursache
dafür, dass sich jedes von beiden verändert, und nicht
das Holz macht ein Bett oder das Erz eine Bildsäule (aus sich
selbst), sondern etwas anderes ist Ursache der Veränderung.
Diese Ursache nun suchen heißt das ... suchen, ... wovon der
Anfang der Bewegung kommt." Dieser „anfängliche Anstoß
zu Wandel oder Beharrung" kommt im handwerklich-technischen
Denken im wesentlichen von einer handelnden bzw. arbeitenden Person.
Diese menschliche Person, der einzelarbeitende Handwerker, hat ein
Ziel oder einen Zweck vor Augen, nach dem er das Material bildet,
das Holz zu einem Bett und das Erz zu einer Bildsäule umformt.
Die geistige Vorwegnahme des künftigen Arbeitsergebnisses im
Plan wird zum Zweck der Arbeit, das Material wird zum Mittel wie
die Instrumente, die in der Arbeit eingesetzt werden. Für den
Philosophen wird der Wunsch nach Gesundheit zum Zweck, den er durch
Spazierengehen als Mittel erreicht, weil er nicht mehr körperlich
arbeitet und sich daher anderweitige körperliche Bewegung verschaffen
muss. Auch wo Aristoteles seine Beispiele nicht aus dem handwerklich-technischen
Bereich sondern allgemein aus dem menschlichen Verhalten wählt,
geht es ihm wesentlich immer um zweckbestimmtes Verhalten und daher
bleibt sein Denkmuster das des Arbeitszusammenhanges eines einzelarbeitenden
Handwerkers oder Künstlers. Bei der Darstellung der Philosophie
des Aristoteles wird dieser Zusammenhang noch näher ausgeführt
werden.
9.2.3 Vorläufiges Resultat: Das archê-Denken sah die
verändernde Ursache einerseits im Früheren, andererseits
in den Dingen selbst. Das aristotelische Ursachendenken legt erstens die verändernden Kräfte nicht in die Sache, sondern außerhalb
der Sache in ein handelndes Subjekt, die Sache wird zum behandelten
Objekt. Dieses Denken ist handwerklich-technologisch.
Zweitens wird die bestimmende Ursache einer Veränderung
nicht mehr in der Vergangenheit gesucht, sondern das Handeln des
tätigen Menschen ist zweckbestimmt, also zukunftsbestimmt.
Das planende Denken, der Schöpfergeist, dominiert den Stoff,
die Materie, denn der Stoff bleibt in der Form von Material und
in der Form von Werkzeug oder Instrument dem gedachten und geplanten
Zweck untergeordnet. Material und Instrument sind nur Mittel zum
Zweck, der Zweck ist das Bestimmende. Daher ist das aristotelische
Ursachendenken idealistisch.
Der zweckbestimmte Zusammenhang eines Einzelarbeiters oder Künstlers
bildet als Ursachenzusammenhang die „materielle" Basis des
aristotelischen Idealismus und aller nachfolgenden Welterklärung
einschließlich der Philosophie eines Hegel. Die handwerkliche
Schöpfung eines Kunstwerks oder die Herstellung eines Gegenstandes
wird auf die Welt als Ganzes übertragen. Hinter den Veränderungen
der Natur wird ein göttlicher Schöpfergeist gesehen, der
die Natur so einrichtet, wie der Mensch ein Haus oder eine Stadt
einrichtet. Die Natur ist in dieser technologischen Weltsicht nur
noch Objekt des schaffenden Menschen, bzw. das Objekt eines davon
abstrahierten Schöpfergottes, und nicht mehr selbst Quelle
von Veränderung.
Erst dadurch, dass die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften
die Kluft zwischen Biologie und Chemie mit ihren Veränderungen
als interne Faktoren auf der einen Seite und Mechanik oder Physik
mit ihren Veränderungen als externe Faktoren überbrückten,
wurde entdeckt, dass die Ursachen von Veränderungen immer ein
Zusammenwirken von internen und externen Faktoren ist.
Nach Darwin wirkt zum Beispiel die Vererbung als interner Faktor
auf der Grundlage der Umweltbedingungen als externer Faktor. Oder
Veränderungen im atomaren Bereich entstehen aufgrund von internen
Atomstrukturen im Zusammenwirken mit bestimmten externen Bedingungen
(z.B. Energiezufuhr). Erst auf der Basis moderner Erkenntnisse wurde
dieser Jahrtausende lange Dualismus im menschlichen Denken von „materialistisch-inneren"
und „idealistisch-externen" Ursachen überwindbar und eine
Verschmelzung von biologistischem archê-Denken und handwerklich-technologischem
Ursachendenken ermöglicht.
9.3 Denkweise und Mythologie
Dass diese beiden Denkweisen keine griechische Entdeckung sind,
sondern viel länger in die Geschichte des menschlichen Denkens
zurück reichen, beweisen die gegensätzlichen Kosmogonien,
die von den großen Kulturkreisen hervorgebracht worden sind
und die sich teils als biologistisch und teils als handwerklich-technologisch
beschreiben lassen.
9.3.1 Mythos der sich selbst schaffenden Natur: So überlieferten
die Phönizier: „Der Anfang der Dinge war ein Chaos, in welchem
die Elemente unentwickelt untereinander lagen, und ein Luftgeist.
Dieser schwängerte das Chaos und erzeugte mit ihm einen schleimigen
Stoff, Mot, der die lebendigen Kräfte und Samen der Tiere in
sich enthielt. Durch die Vermischung des Mot mit der Materie des
Chaos und die daraus entstandene Gärung trennten sich die Elemente.
Die Feuerteile stiegen in die Höhe und bildeten die Gestirne.
Durch den Einfluss dieser auf die Luft wurden die Wolken erzeugt.
Die Erde ward fruchtbar. Aus der durch das Mot in Fäulnis übergegangenen
Mischung von Wasser und Erde entstanden die Tiere, unvollkommen
und ohne Sinne. Diese erzeugten wieder andere Tiere, vollkommener
und mit Sinnen begabt. Die Erschütterung des Donners beim Gewitter
war es, welche die ersten Tiere, die in ihren Samenhüllen schliefen,
zum Leben erwachen ließ."
Hier wird die Entstehung der Welt nur aus inneren Ursachen, ohne
Zutun eines Schöpfergeistes geschildert.
9.3.2 Mischformen von Selbstschöpfung mit menschenähnlicher
Beteiligung: Der folgende chinesische Mythos beteiligt zwar
schon eine menschenähnliche Person an der Entstehung der Welt,
aber noch ganz ohne technologische Mittel: „Vor langer, langer
Zeit waren Himmel und Erde eins, das Universum war ein großes,
schwarzes Chaos und sah wie ein riesiges Ei aus, in dem der Riese
Pan Gu ruhte. Ohne jegliche Bewegung schlummerte er immerfort. Nach
etwa 18000 Jahren erwachte Pan Gu aus seinem Schlaf. Nichts anderes
sah er vor sich als Finsternis.... Allmählich wurde er unmutig,
ja sogar ärgerlich. So tat er seine Hände auf, schwenkte
seine eisernen Arme und holte zu einem wuchtigen Schlag aus. Mit
einem Krach zerbarst das Ei! Das finstere Chaos, das mehrere hunderttausend
Jahre lang bewegungslos war, wurde nun umgerührt. Die leichten,
hellen Teile stiegen auf, breiteten sich aus und wurden allmählich
zum blauen Himmel; die trüben, dunklen sanken in die Tiefe,
häuften sich immer mehr auf und bildeten die Erde. Pan Gu stand
in der Mitte dazwischen und holte tief Atem ... Himmel und Erde
waren nun geteilt, aber Pan Gu fürchtete, sie könnten
sich wieder zusammenschließen so stützte er mit seinen
Händen den Himmel, während seine Füße auf der
Erde ruhten. Außerdem wuchs er mächtig - um ein ganzes
Klafter am Tag. Dementsprechend entfernten sich Himmel und Erde
auch mit jedem Tag um dieses Maß mehr voneinander. So vergingen
weitere 18000 Jahre. Der Himmel wurde höher und höher,
die Erde dichter und dichter und Pan Gu wurde immer länger
und länger. Welche Größe erreichte nun Pan Gu wirklich?
Er wurde 90 000 Meilen lang. Er war ein Riese, der zum Himmel ragte.
Durch Pan Gu wurden Himmel und Erde geteilt... aber dabei verbrauchte
Pan Gu all seine Kräfte und verstarb aus Erschöpfung bald
darauf. ... Aber bevor er starb, geschahen erstaunliche Dinge mit
ihm: Sein Atem wurde zu Frühlingswinden, die die Lebewesen
wachsen ließen, und brachte Gewölk hervor; seine Stimme
verwandelte sich in rollenden Donner. Sein linkes Auge wurde zur
strahlenden Sonne, das rechte Auge zu einem prächtigen Mond.
Aus seinem Haar und Bart entwuchsen unzählige Sterne am Himmel.
Seine Glieder und sein Leib verwandelten sich in die vier Pole -
Ost, Süd, West und Nord - und in die fünf hoch in die
Wolken ragenden heiligen Berge Chinas. Aus seinem Blut bildeten
sich brausende Gewässer, aus seinen Adern Straßen und
Wege, die sich miteinander verbanden und in alle Himmelsrichtungen
führten. Seine Muskeln wurden zu fruchtbarem Ackerland, seine
Zähne, sein Skelett und Knochenmark zu weißer Jade und
unerschöpflichen Bodenschätzen. Aus seiner Körperbehaarung
wurden Pflanzen, die überall auf der Erde wuchsen, sein Schweiß
wurde zu Regen und Tau, die alle Dinge befeuchten."
Einen ähnlichen Mythos haben wir von dem Chaldäer Berosos.
Hier treten nicht nur menschenähnliche Personen auf, sondern
sie verwenden auch schon Messer als Werkzeug: „Der ursprüngliche
Gott sei Bel und die Göttin Omoroka (das Meer)... Bel schnitt
die Omoroka mitten durch, um aus ihren Teilen den Himmel und die
Erde zu bilden. Hierauf schnitt er sich selbst den Kopf ab, und
aus den Tropfen seines göttlichen Blutes entstand das Menschengeschlecht.
Nach Schöpfung der Menschen verscheuchte Bel die Finsternis,
schied Himmel und Erde und formte die Welt zu ihrer natürlichen
Gestalt...."
9.3.3 Schöpfung durch einen Handwerkergott: In Schöpfungsmythen
mit einem Handwerkergott - oder einer Handwerkergöttin, der/die
mit Werkzeugen und nach Plan schafft, haben wir dagegen das handwerklich-technologische
Ursachendenken voll ausgebildet. In dieser Stufe tritt auch ein
Gottes-Individuum als „Einzelproduzent" an die Stelle der traditionellen
patriarchalischen Götterfamilie. Das zeigt folgender chinesische
Mythos: „Nachdem Himmel und Erde geteilt waren, durchwanderte
die Göttin Nüwa die Lande... Aber sie fühlte sich
allein. ... Die Göttin überlegte kurz, bückte sich
und begann, mit beiden Händen gelben Lehm zu kneten und nach
ihrer eigenen Gestalt kleine Figuren zu formen, die äußerst
klug und geschickt waren, aufrecht gingen und sprechen konnten.
Nüwa war darüber so erfreut, dass sie weitere viele solcher
Figuren formte, sowohl männliche als auch weibliche..."
Der biblische Schöpfungsmythos ist eine Zusammenstellung aus
mehreren verschiedenen Kosmogonien, die teils einen einzelarbeitenden
Handwerkergott bei der Arbeit beschreiben: „Da machte Gott der
Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des
Lebens in seine Nase", teils zeigen sie einen orientalischen
Herrscher, der sich schon so weit über körperliche Arbeit
und über seine Untertanen erhoben hat, dass er nur noch zu
befehlen braucht, um etwas in Gang zu setzen: „Und Gott sprach:
Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, dass
man das Trockene sehe. Und es geschah so."
Auf dieser Stufe ist der Arbeitszusammenhang scheinbar verschwunden.
Aber er verschwindet nur dadurch, dass hier die natürliche
Einheit der geistigen und körperlichen Betätigung in der
Arbeit, also die Einheit von Planung und Ausführung, auf verschiedene
Personen aufgeteilt wurde. Diese künstliche Aufteilung oder
Trennung in geistige und körperliche Arbeiter bedarf in jedem
Fall wieder der Verbindung durch einen despotischen, befehlenden
Willen auf der einen Seite und der gehorchenden Willenlosigkeit
auf der anderen Seite.
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