Q.Horatii Flacci
saturae - sermones
liber alter
Hor.sat.2,1: Horaz als Satiriker und seine Kritiker
Hor.sat.2,1 ist im Jahr 30 v.Chr. entstanden und führt thematisch in das zweite Satirenbuch ein: Welche Konsequenzen soll der Dichter aus der reichlichen (aber in sich nicht konsistenten) Kritik an den bereits veröffentlichten Satiren ziehen? Diese Frage richtet Horaz an den Juristen C.Trebatius Testa, einst ein Anhänger Ciceros und Caesars, jetzt des Octavianus. Die fiktive Gesprächssituation ist also die, dass sich Horaz, bevor er sich erneut den Anschuldigungen seiner Kritiker aussetzt, juristische beraten lässt. Trebatius spielt den advoctus diaboli: Die Empfehlungen, die ihm Horaz in den Mund legt, geben ihm Anlass, Erwartungen der Öffentlichkeit zurückzuweisen und dienen der dialogischen Dramatisierung der Satire.- 1-5a: Die Vorwürfe der Kritiker: inhaltlich Schmähsucht, formal mangelhafte poetische Qualität
- 5b-12a: Empfehlungen des Trebatius (im knappen Stil eines Rechtsgelehrten)
- 12b-15: Um ein Heldenepos zu dichten, hält Horaz seine Kräfte für nicht ausreichend
- 16-20: Um die Leistung (virtus) des Octavianus zu besingen, gilt es, die rechte Zeit abzuwarten
- 21-60: Rechtfertigung seiner Satirendichtung als der ihm persönlich gemäßen Form
- 60-79a: Parallelisierung zwischen ihm selbst und Lucilius im Verhältnis zu ihrem jeweiligen Freundeskreis
- 79b-86: Der Vorwurf des Schmähdichtung (mala carmina) wird sich auch juristisch nicht durchsetzen lassen
Gliederung nach Krüger.
"Sunt quibus in satura videar nimis acer et ultra
Manchen schein' ich zu scharf im Spottgedicht und zu weit hin
Legem tendere opus; sine nervis altera quidquid
Ãœbers Gesetz wegschreitend, dagegen andern zu kraftlos,
Conposui pars esse putat similisque meorum
Was ich auch schuf, so dass, wie sie meinen, von solcherlei Versen
Mille die versus deduci posse. Trebati,
Tausend des Tags man mög' abspinnen. Trebatius, gib mir
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Quid faciam? Praescribe." - "Quiescas." - "Ne faciam, inquis,
Rat, was ich tu'! - Sei stille! - Das heißt, mach fürder du gänzlich
Omnino versus?" - "Aio." - "Peream male, si non
Verse nicht mehr! - Ganz recht! - Ich lasse mich hängen, wenn dies das
Optimum erat; verum nequeo dormire." - "Ter uncti
Beste nicht ist! Doch ich, ich kann nicht schlafen. - O dreimal
Transnanto Tiberim, somno quibus est opus alto,
Schwimme gesalbt durch den Tiber, wer herrlichen Schlafes begehret.
Inriguumque mero sub noctem corpus habento.
Auch mag tüchtig mit Wein vor Nacht er sich waschen den Leichnam.
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Aut si tantus amor scribendi te rapit, aude
Oder, sofern dich zu heftig die Schreiblust plaget, so wag' es,
Caesaris invicti res dicere, multa laborum
Caesars Siege und Taten zu singen, und reichlich belohnet
Praemia laturus." - "Cupidum, pater optime, vires
Wird dir die Arbeit! - Gern, lieb Väterchen, aber mir fehlen
Deficiunt; neque enim quivis horrentia pilis
Leider die Kräfte. Nicht jeder vermag es, die Treffen von Speeren
Agmina nec fracta pereuntis cuspide Gallos
Grausend, die Gallier zu Tod' am Pfeil, dem gebrochenen, blutend
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Aut labentis equo describit volnera Parthi."
Oder die Wunden des rossabsinkenden Parthers zu schildern.
- "Attamen et iustum poteras et scribere fortem,
Aber du kannst den Gerechten, den Tapfern besingen, so wie der
Scipiadam ut sapiens Lucilius." - "Haud mihi dero,
Weise Lucilius Scipios Sohn. - Ich werd' es nicht fehlen
Cum res ipsa feret: nisi dextro tempore, Flacci,
Lassen an mir, sobald es sich fügt. Zu gelegener Zeit nur
Verba per attentam non ibunt Caesaris aurem:
Finden geneigtes Gehör bei Caesar die Worte des Flaccus
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Cui male si palpere, recalcitrat undique tutus."
Streichelt verkehrt man ihn, ausschlägt er, dass keiner herannaht.
- "Quanto rectius hoc quam tristi laedere versu
- Wie viel rechtlicher ist's, als kränken ihn mürrischem Verse
Pantolabum scurram Nomentanumque nepotem,
Pantolab, den Schmarotzer, und Nomentanus, den Schlemmer,
Cum sibi quisque timet, quamquam est intactus, et odit."
Da, obgleich nicht getroffen, ein jeder dich fürchtet und hasst?
- "Quid faciam? Saltat Milonius, ut semel icto
- Was dann tun? Milonius tanzt, sobald ihm ein Räuschlein
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Accessit fervor capiti numerusque lucernis;
Hitziger steigt zu Kopf, und die Lichter gedoppelt ihm scheinen.
Castor gaudet equis, ovo prognatus eodem
Castor freut sich der Ross' und der Zwillingsbruder des Kolbens;
Pugnis; quot capitum vivunt, totidem studiorum
So viele Köpfe da sind, so viel von Neigungen gibt es
Milia: me pedibus delectat claudere verba
Tausende. Mich nun ergötzt es, die Worte abmessend mit Füßen
Lucili ritu, nostrum melioris utroque.
Nach Lucilius' Art, der beid' uns hinten zurücklässt.
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Ille velut fidis arcana sodalibus olim
Gleich als treuen Genossen vertraut' einst dieser den Büchern
Credebat libris neque, si male cesserat, usquam
Jedes Geheimnis an, und wich nicht ab, ob es bös ihm,
Decurrens alio neque, si bene; quo fit ut omnis
Oder ob glücklich erging. Drum ist auch gänzlich des Alten
Votiva pateat veluti descripta tabella
Leben vorhanden, genau als auf Weihtafeln geschrieben.
Vita senis. Sequor hunc, Lucanus an Appulus anceps;
Dem da folg' ich, ich sei nun Apulier oder Lukaner;
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Nam Venusinus arat finem sub utrumque colonus,
Denn von beiden Grenz' bewohnt der venusische Landmann,
Missus ad hoc pulsis, vetus est ut fama, Sabellis,
Der, nach Sage der Alten, dahin ward nach der Sabeller
Quo ne per vacuum Romano incurreret hostis,
Ausschub darum gesetzt, dass nicht andränge nach Rom der
Sive quod Appula gens seu quod Lucania bellum
Feind durch die Wüste, sobald sich Apulier oder Lukaner
Incuteret violenta. Sed hic stilus haud petet ultro
Wild zum Krieg aufmachten. Doch soll mein Griffel von selbst nie
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Quemquam animantem et me veluti custodiet ensis
Einen der Lebenden treffen, und mich nur schützen, so wie ein
Vagina tectus: quem cur destringere coner
Schwert in der Scheide. Was sollte doch dieses ich ziehen, solange
Tutus ab infestis latronibus? O pater et rex
Mich anfällt kein mördrischer Räuber? Wo Vater und König
Iuppiter, ut pereat positum robigine telum
Jupiter, ach, dass, nimmer gebraucht, mir die Klinge verrostete!
Nec quisquam noceat cupido mihi pacis! At ille,
Dass mich keiner beschade, der ich nach Frieden verlange!
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Qui me conmorit — melius non tangere, clamo — ,
Doch wer mich antastet (davor sei ernstlich gewarnet!)
Flebit et insignis tota cantabitur Urbe.
Wird es beweinen, wenn rings in den Gassen besungen sein Ruhm wird.
Cervius iratus leges minitatur et urnam,
Servius droht im Zorn mit Gericht und der stimmenden Urne,
Canidia Albuci, quibus est inimica, venenum,
Hier Canidia, welchem sie grollt, mit Albutius' Säftchen,
Grande malum Turius, siquid se iudice certes.
Turius groß Unheil, wer schwebt vor seinem Gerichtsstuhl.
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Ut quo quisque valet suspectos terreat utque
Wie mit dem, des stark er sich fühlt, jedweder den Feind schreckt,
Imperet hoc natura potens, sic collige mecum:
Und wie die mächt'ge Natur es befiehlt, so schließ' es von mir auch.
Dente lupus, cornu taurus petit: unde nisi intus
Dass mit Zähnen der Wolf angreift, mit Hörnern der Ochse,
Monstratum? Scaevae vivacem crede nepoti
Ist's nicht innerer Trieb? Sei sicher, die Mutter des Wüstlings
Matrem: nil faciet sceleris pia dextera — mirum,
Scaeva lebt, ihr tut nichts Leides die kindliche Rechte;
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Ut neque calce lupus quemquam neque dente petit bos — ,
Trifft mit Hufen der Wolf, mit Zähnen der Ochs doch keinen;
Sed mala tollet anum vitiato melle cicuta.
Nur mit Schierling gefälschter Honig befördert die Alte.
Ne longum faciam: seu me tranquilla senectus
Kurz und gut, mich mag nun ein ruhiges Alter erwarten,
Exspectat seu mors atris circumvolat alis,
Oder der Tod mich umschweben anjetzt mit schwarzem Gefieder,
Dives, inops, Romae, seu fors ita iusserit, exsul,
Reich, ob arm, zu Rom, ob, will es die Fügung, verbannet,
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Quisquis erit vitae scribam color." - "O puer, ut sis
Was für Farb' auch hat mein Leben, doch schreib' ich! - O Knabe,
Vitalis metuo et maiorum nequis amicus
Magst du lebendig verbleiben, auch keiner der mächtigen Freunde
Frigore te feriat." - "Quid? Cum est Lucilius ausus
Dich mit Frost umbringen! - Wie so? Lucilius wagt' es
Primus in hunc operis conponere carmina morem
Selbst in strafender Weise Gedichte zuerst zu verfassen,
Oetrahere et pellem, nitidus qua quisque per ora
Und zu entreißen den Pelz, mit dem vor Augen so gleißend
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Cederet, introrsum turpis: num Laelius aut qui
Jeglicher ging, inwendig ein Schalk. Hat Laelius, hat sich,
Duxit ab oppressa meritum Carthagine nomen
Der aus Afrikas Sturz heimbrachte den rühmlichen Namen,
Ingenio offensi aut laeso doluere Metello
Über den Witz wohl entrüstet? Bedauert Metell den Gekränkten,
Famosisque Lupo cooperto versibus? Atqui
Oder den Lupus, den dicht Schmählieder bedeckten? Und dennoch
Primores populi arripuit populumque tributim,
Züchtigt' er zunftweise Volk sowohl, wie die Ersten des Volkes,
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Scilicet uni aequos virtuti atque eius amicis.
Nur friedfertig der Tugend allein und den Freunden derselben.
Quin ubi se a volgo et scaena in secreta remorant
Ja, zog Scipios Größe, des freundlichen Laelius Weisheit
Virtus Scipiadae et mitis sapientia Laeli,
Sich vom Volk und dem Schauplatz müde zurück in die Stille,
Nugari cum illo et discincti ludere, donec
Pflegten sie Possen zu treiben mit ihm und zu spielen im Hausrock,
Decoqueretur holus, soliti. Quidquid sum ego, quamvis
Bis das Gemüs' gar wurde. Was immer ich bin und wie sehr ich
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Infra Lucili censum ingeniumque, tamen me
Nun auch unter Lucil an Stand und Geist mich befinde,
Cum magnis vixisse invita fatebitur usque
Doch muss selber der Neid, auch ungern, offen gestehen,
Invidia et fragili quaerens inlidere dentem
Dass ich mit Großen gelebt; und will er zermalmen das Morsche,
Offendet solido — nisi quid tu, docte Trebati,
Quetscht ihm Hartes den Zahn, wofern du, gelehrter Trebaz, nicht
Dissentis." - "Equidem nihil hinc diffindere possum.
Anders es meinst. – Einrede vermag ich darin nicht zu leisten,
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Sed tamen ut monitus caveas, ne forte negoti
Aber verwarnen, in Acht dich zu nehmen, dass irgend im Händel
Incutiat tibi quid sanctarum inscitia legum:
Nicht Unkunde der heil'gen Gesetze dich bring' und verwickle;
Si mala condiderit in quem quis carmina, ius est
Denn wer schlechte Gedicht' auf jemand fertigt, derselbe
Iudiciumque." - "Esto, siquis mala; sed bona siquis
Steht zu Urteil und Recht! – Ja schlechte, doch machte er gute,
Iudice condiderit laudatus Caesare? Siquis
Die selbst Caesar als Richter belobt, und wenn nun unsträflich
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Opprobriis dignum latraverit, integer ipse?"
Selber er ist, der den Schimpf und Schande Verdienenden anbellt?
- "Solventur risu tabulae, tu missus abibis."
– Dann geht lachend der Handel zur Ende, du selber gehst frei aus!
Aufgabenvorschläge:
Sententiae excerptae:Lat. zu "Hor.sat.2,1,"
Literatur:zu "Hor.sat.2,1,"
3396
Fraenkel, E.
Horaz
Darmstadt (WBG) 1963
4261
Horaz / Doering
Q.Horatii Flacci opera omnia recensuit et illustravit Fridericus Guil. Doering
I:
II: Lipsiae (sumtibus librariae Hahnianae) 1836 [Text, Kommentar, Index verborum]
Leipzig, Hahn, 1836
4263
Horaz / Krüger
Des Q. Horatius Flaccus Sämtliche Werke für den Schulgebrauch erklärt:
I. Teil: Oden, Epoden, v. C.W.Nauck u. O. Weißenfels
II. Teil: Satiren und Epistel. (1. Satiren, 2. Epistel), von G.T.A.Krüger
Leipzig / Berlin (Teubner) 15/1904
3384
Horaz / Obbarius, Th.
Q.Horatii Flacci Opera omnia, lat. - Horaz' Sämtliche Werke, in metrischen Übersetzungen, ausgewählt von Th. Obbarius
Paderborn (Schöningh) 3/1872
4262
Horaz / Schulze
Horaz, Auswahl für den Schulgebrauch v. Dr. K.P.Schulze
I.: Text
II: Anmerkungen
Berlin, Weidmann, 1904
3390
Horaz / Voß, J.H.
Horaz. Sämtliche Werke; übersetzt von J.H. Voss
Leipzig (Reclam) o.J.
3380
Kiessling / Heinze
I: Horaz, Oden und Epoden, erklärt von A.Kiessling, neunte Aufl. besorgt v. R.Heinze, mit einem Nachwort und bibliograph. Nachträgen von E.Burck
II: Satiren, erklärt von A.Kiessling, siebente Aufl. besorgt v. R.Heinze, mit einem Nachwort und bibliograph. Nachträgen von E.Burck
III: Briefe.
Berlin (Weidmann) 9/1958; 7/1959; 6/1959
2983
Salomon, Franz (Hg.)
Auswahl aus römischer Dichtung. Mit Einleitung, Metrik und Namensverzeichnis hg. (Catullus, Tibullus, Propertius, Horatius, Lucretius)
München, G.Freytag 8/o.J.
3391
Wieland, C.M.
Horazens Satyren. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen von...
Wien (A.Doll) 1813
3402
Wili, W.
Horaz und die augusteische Kultur
Basel (Schwabe) 1965 [Ndr.: Darmstadt (WBG)]
- /Lat/hor/horsat201.php - Letzte Aktualisierung: 17.07.2024 - 15:59