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Marcus Tullius Cicero
de re publica I

Persönliche Vorrede an seinen  Bruder Quintus : Accedere ad rem publicam?

Cic.rep.1,1-3: virtus als naturgemäße Daseinsform des Menschen

 

 
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1: virtus oder voluptas?

(1,1) M. vero Catoni, homini ignoto et novo, quo omnes, qui isdem rebus studemus, quasi exemplari ad industriam virtutemque ducimur, certe licuit Tusculi se in otio delectare salubri et propinquo loco. Sed homo demens, ut isti putant, cum cogeret eum necessitas nulla, in his undis et tempestatibus ad summam senectutem maluit iactari quam in illa tranquillitate atque otio iucundissime vivere. Omitto innumerabilis viros, quorum singuli saluti huic civitati fuerunt, et quia sunt <haud> procul ab aetatis huius memoria, commemorare eos desino, ne quis se aut suorum aliquem praetermissum queratur. Unum hoc definio, tantam esse necessitatem virtutis generi hominum a natura tantumque amorem ad communem salutem defendendam datum, ut ea vis omnia blandimenta voluptatis otiique vicerit. 
(1,1) Dem Marcus Cato aber, einem Mann ohne früheren Ruhm und Ahnen, der für uns alle, die wir nach gleichen Zielen streben, gleichsam Vorbild für die Richtung unserer Tätigkeit und würdigen Gesinnung bleibt, stand es doch gewiss frei, in Tusculum in Muße ein behagliches Leben zu führen, an einem gesunden und dabei nicht weit entfernten Ort. Aber dieser unsinnige Mensch (dafür sehen ihn wenigstens jene an) wollte lieber, obgleich ihn nichts dazu nötigte, sich von diesen Wogen und Stürmen bis in das höchste Alter herumtreiben lassen, als in jener stillen Zurückgezogenheit und Muße aufs angenehmste leben. Ich unterlasse die Aufzählung unendlich vieler Männer, von denen jeder zum Wohl dieses Staates beigetragen hat, und will hier an sie nicht weiter erinnern, da sie der Erinnerung unserer Zeit nicht unmittelbar nahe stehen, damit sich nicht jemand beklage, er oder einer der Seinen sei übergangen worden, und beschränke mich bloß auf die entschiedene Erklärung, dass in der menschlichen Natur eine solche innere Nötigung zur Tugend und ein solcher Drang, das Gemeinwohl zu verteidigen, liegt, dass dieser Trieb über alle Reize der Sinnenlust und behaglichen Muße die Oberhand gewonnen hat.
Übersetzung neu bearbeitet nach G.H.Moser (1828)

 

Aufgabenvorschläge:
  1. Wozu dient M.Porcius Cato Censorius als Beispiel?
  2. Mit welchen Begriffen, werden die beiden Existenzformen umschrieben, zwischen denen Cato grundsätzlich die Wahl hatte
    • industria virtusque
    • undae 
    • tempestates 
    • iactari
    • Tusculum
    • se delectare
    • otium 
    • saluber et propinquus locus
    • tranquillitas
    • iucundissme vivere
    • necessitas virtutis
    • amor ad communem salutem defendendam
    • blandimenta voluptatis otiique
  3. In welchem Satz "definiert" Cicero den Hauptgedanken des Absatzes?
    Die Hauptaussage ("definitio"), auf die die Beispiele und der Gedankengang des Absatzes zulaufen, bestimmt den Menschen als ein Wesen, das, wenn es nach der Natur lebt, sich genötigt sieht, seine Kraft in den Dienst der Gemeinschaft.
  4. Wieso könnte die Überschrift dieses Absatzes statt "virtus oder voluptas?" auch "Stoa oder Epikur?" lauten? Informieren Sie sich über ethische Ausrichtung  beider Schulen!
  5. Vergleichen Sie inhaltlich und formal mit dieser Wesensbestimmung des Menschen den bekannten Satz aus der Politik des Aristoteles: ὁ ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον, καὶ ὁ ἄπολις διὰ φύσιν καὶ οὐ διὰ τύχην ἤτοι φαῦλός ἐστιν (Aristot.Polit.1253a3) - "der Mensch: ein von Natur aus auf Polisgemeinschaft hin veranlagtes Wesen; und der außerhalb politischer Gemeinschaft lebende Mensch ist nach seiner Natur, nicht den Umständen nach schlecht.").
    Die tiefste Begründung dafür, dass der Mensch sich mit Politik beschäftigen soll, liegt offenbar darin, dass er "von Natur aus ein politisches Wesen" ist. Darin erweist sich Cicero offenbar als Aristoteliker.
    • generi hominum 
    • a natura ... datum
    • ad communem salutem 
    • ἄνθρωπος ζῷον 
    • φύσει 
    • πολιτικόν
    Vgl.: Aristot.Polit.1253a: διότι δὲ πολιτικὸν ὁ ἄνθρωπος ζῷον πάσης μελίττης καὶ παντὸς ἀγελαίου ζῴου μᾶλλον, δῆλον. οὐθὲν γάρ, ὡς φαμέν, μάτην ἡ φύσις ποιεῖ·  Deswegen ist der Mensch offenbar mehr ein bürgerliches Wesen als jede Biene und jedes Herdentier. Denn, wie gesagt, tut die Natur nichts umsonst. 
  6. Entspricht die von Cicero postulierte naturgegebene "Sozialbindung" des Menschen noch unserem heutigen Menschenbild und Staatsverständnis?

 

2-3: usus oder ars?

(1,2) Nec vero habere virtutem satis est quasi artem aliquam, nisi utare; etsi ars quidem, cum ea non utare, scientia tamen ipsa teneri potest, virtus in usu sui tota posita est; usus autem eius est maximus civitatis gubernatio et earum ipsarum rerum, quas isti in angulis personant, reapse, non oratione perfectio. Nihil enim dicitur a philosophis, quod quidem recte honesteque dicatur, quod <non> ab iis partum confirmatumque sit, a quibus civitatibus iura discripta sunt. Unde enim pietas aut a quibus religio? unde ius aut gentium aut hoc ipsum, civile quod dicitur? unde iustitia, fides, aequitas? unde pudor, continentia, fuga turpitudinis, adpetentia laudis et honestatis? unde in laboribus et periculis fortitudo? Nempe ab iis, qui haec disciplinis informata alia moribus confirmarunt, sanxerunt autem alia legibus. (1,3) Quin etiam Xenocraten ferunt, nobilem in primis philosophum, cum quaereretur ex eo, quid adsequerentur eius discipuli, respondisse, ut id sua sponte facerent, quod cogerentur facere legibus. Ergo ille civis, qui id cogit omnis imperio legumque poena, quod vix paucis persuadere oratione philosophi possunt, etiam iis, qui illa disputant, ipsis est praeferendus doctoribus. Quae est enim istorum oratio tam exquisita, quae sit anteponenda bene constitutae civitati publico iure et moribus? Equidem quem ad modum 'urbes magnas atque imperiosas', ut appellat Ennius, viculis et castellis praeferendas puto, sic eos, qui his urbibus consilio atque auctoritate praesunt, iis, qui omnis negotii publici expertes sint, longe duco sapientia ipsa esse anteponendos. Et quoniam maxime rapimur ad opes augendas generis humani studemusque nostris consiliis et laboribus tutiorem et opulentiorem vitam hominum reddere et ad hanc voluptatem ipsius naturae stimulis incitamur, teneamus eum cursum, qui semper fuit optimi cuiusque, neque ea signa audiamus, quae receptui canunt, ut eos etiam revocent, qui iam processerint.  
(1,2) Dabei genügt es freilich nicht, die Tugend wie irgend eine Kunstfertigkeit zu besitzen, ohne sie ins Leben treten zu lassen. Auch wenn man eine Kunst, ohne sie auszuüben, doch als bloßes Wissen besitzen kann, besteht die Tugend ihrem ganzen Wesen nach bloß in der Ausübung. Ihre bedeutendste Ausübung findet sie aber in der Leitung des Staates, und in der tatsächlichen, nicht bloß verbalen Ausführung gerade derjenigen Dinge, die jene <Philosophen> in ihren Winkeln ausposaunen. Denn keinen Satz, soweit er wenigstens wahr und würdig vorgetragen wird, sprechen die Philosophen aus, der nicht von denen zuerst aufgestellt und begründet worden wäre, die in den Staaten die Rechtsverhältnisse festgestellt haben. Denn wo liegt die Quelle der Frömmigkeit, wo der Ursprung der Gottesverehrung? Woher stammen das Völkerrecht oder das sogenannte bürgerliche Recht? Woher Gerechtigkeit, Treu und Glauben, woher Billigkeit? Woher Scheu vor Unedlem, Enthaltsamkeit, Widerwillen gegen Schimpfliches, Streben nach Lob und Ehrbarkeit? Woher endlich Mut und Ausdauer bei Anstrengungen und in Gefahren? - Offenbar von denen, die dies durch Belehrung ausgebildet und einen Teil davon durch Sitte und herkommen fest gegründet, einen anderen durch Gesetze heilig und unverletzlich gemacht haben. (1,3) Erzählt man doch bestimmt von Xenokrates, einem überaus berühmten Philosophen, er habe auf die Frage, was denn seine Schüler bezwecken, geantwortet, dass sie dasjenige aus innerem Antrieb tun, wozu sie durch die Gesetze gezwungen würden. Daher überwiegt der Bürger, der die Gesamtheit durch das Machtwort des Gebotes und die von den Gesetzen bestimmte Strafe zu dem bringt, wozu die Philosophen durch ihre Rede kaum wenige zu bewegen vermögen, an Wert selbst die Lehrer, die hierüber ausführliche Vorträge halten. Denn gibt es wohl einen so ausgezeichnet wertvollen Vortrag, der einem durch öffentliches Recht und Sitte gut eingerichteten Staat vorzuziehen wäre? Und wirklich, wie ich "Städte von Macht und gewaltiger Herrschaft", um mich eines Ausdrucks des Ennius zu bedienten, für wertvoller halte als kleine Dörfer und Kastelle, so bin ich der Ansicht, dass diejenigen, die diesen Städten mit Rat und Ansehen vorstehen, gerade an Weisheit weit über diejenigen zu stellen sind, die ohne alle Teilnahme an öffentlichen Geschäften leben. Und weil uns ein besonderer innerer Drang antreibt, die wertvollsten Güter des Menschengeschlechts zu vermehren, und wir durch unsere innere und äußere Tätigkeit die Menschheit in einen gesicherten und an Besitztum reichen Zustand zu bringen streben, auch die Natur uns selbst zu dieser Neigung anspornt; so lasst uns auf dieser Bahn, die stets nur die Besten betreten haben, kräftig vorwärts streben, und gar nicht auf die Signale derjenigen achten, die zum Rückzug blasen, um auch diejenigen zurückzurufen, die schon weit voran sind.
Übersetzung neu bearbeitet nach G.H.Moser (1828)
Aufgabenvorschläge:
  1. Nach der Antithese virtus - voluptas stellt Cicero den Begriff der virtus jetzt in das Spannungsfeld von ars und usus. Klären Sie 
    1. die Begriffsfelder von "ars", "scientia" und "usus";
    2. klären Sie besonders, was mit den technischen Ausdrücken "proprie, latiore significatione, metonymice, translate, speciatim gemeint ist
    3. ordnen Sie die Begriffe nach ihren kontextspezifischen Bedeutungen  einander zu!
      [Zu Grunde liegen die Lemmata von "Forcellini"]
      1. ars
        1. proprie est praeceptio, quae dat certam viam rationemque faciendi aliquid ( praeceptio)
        2. latiore autem significatione dicitur de quocumque exercitio, quo quis aliquid operatur (exercitium)
          1. hinc etiam sumitur saepe pro ipsa scientia, disciplina aut cognitione (scientia)
          2. item interdum pro exquisito artificio (Kunstfertigkeit), diligentia cura (sollertia)
        3. metonymice ponitur pro ipso opere artis (opus)
          1. hinc etiam artes pro Musis, quae artium praesides sunt (Musa)
        4. translate, ratione habita morum alicuius, dicitur de virtutibus aut vitiis (virtus)
          1. quare etiam saepe ponitur pro prudentia, sollertia, industria
          2. item in malam partem pro calliditate, dolo, fraudibus
        5. speciatim
          1. apud Grammaticos et Rhetoricos absolute dicitur de Grmmatica ( Grammatica)
          2. hinc ponitur pro ipsis libris, in quibus agitur de ipsa arte grammatica (liber)
          3. ars maxime dicitur de Mathematicorum praesagiis
          4. artes liberales 
      2. scientia
        1. proprie est 
          1. actus sciendi, cognitio, intelligentia, notitia
          2. doctrina, eruditio, facultasin aliqua arte liberali
        2. absolute sumitur et in malam partem pro veneficio, maleficio
        3. speciatim: arbor scientiae (Baum der Erkenntnis)
          Discrimen inter artem et scientiam tradit Victorin. (in Rhet.Cic.1 p. 74 Orell.) "Inter scientiam et artem hoc interest: Ars quidem duplex est, una in scientia, alia in actu. Verum scientia rursus duplex est: est scientia artis, est non artis: neque enim aurum, gemmas probare artis est aut scire, quot milia hominum in illo sint populo, quanto spatio haec urbs ab illa distat; haec itaque scientia est, sed non artis. 
      3. usus [usus bezeichnet den vertrauten Umgang mit etwas (Sache oder Person), woraus eine Gewöhnung, bzw stärker institutionalisiert ein Brauch entsteht. Diese Routine kann sich vorteilhaft auf die Effizienz der Handlung auswirken. ]
        1. proprie est utendi actus, exercitatio , tractatio
        2. est etiam utilitas et fructus, quem utendo re quapiam percipimus
          1. hinc formulae:
            • ex usu esse: utile esse, prodesse, expedire
            • usus venit: contingit; accidit ut opus sit
        3. deinde usus est etiam
          1. consuetudo, mos
          2. item consuetudo victus, familiaritas, amicitia
          3. item consuetudo Venerea
      virtus in usu sui tota posita est
      Cicero stellt in rep.1,2 die "virtus" in das Spannungsfeld von "ars" und "usus", womit am ehesten unser Begriffspaar von Theorie (ars) und Praxis (usus) gemeint ist: "virtus" soll nun keine rein theoretische Angelegenheit bleiben, keine bloße Veranstaltung der Philosophenschulen ("in angulis"), sondern sich in der Praxis der Politik erfüllen.  
      Dabei geht die Gegenüberstellung von "ars" und "usus" nicht restlos auf. Es gibt einen wesentlichen Unterschied: Dem Begriff der "ars" ist  von Anfang an der Begriff der "Praxis" (actus, actio) immanent: man kann sie gebrauchen oder nicht ("nisi utare"); im letzten Fall kann sie als "scientia" überleben. Nicht ebenso der Begriff des "usus": er bezeichnet allein die Nutzanwendung in der Praxis.  

      Auch wenn Cicero hier eindeutig Partei für den Praxisbezug ergreift, muss man erkennen, dass es sich bei beiden Haltungen um Grundentscheidungen handelt, die der Mensch für seinen persönlichen Lebensentwurf ergreifen kann.

  2. Stellen Sie Textstellen zusammen, in denen Cicero politisches Handeln mit moralischen und rechtlichen Aspekten verknüpft! Lassen sich daraus erste Rückschlüsse auf ein Staatsverständnis Ciceros ziehen?  Informieren Sie sich über den Unterschied zwischen "ius gentium" und "ius civile"!
Sententiae excerptae:
Lat. zu "Cic" und "rep"
174
Talis est quaeque res publica, qualis eius aut natura aut voluntas, qui illam regit.
So ist jeder Staat, wie entweder der Charakter oder der Wille desjenigen, der ihn regiert.
Cic.rep.1,47


Literatur:
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Plinius d. J. und Cicero. Untersuchungen zur römischen Epistolographie in Republik und Kaiserzeit
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