I. Der Saal der der
frühgriechischen Jünglinge (Kuroi) |
- Wir stehen im "Saal
der der frühgriechischen Jünglinge".
- Zunächst nimmt der "Apoll von Tenea" unsere Aufmerksamkeit in Anspruch (Bildquelle).
Tenea war ein Ort bei Korinth. Dort stand unser Jüngling auf einem Grab.
Die Datierung auf das Jahr
560/550 v. Chr. erweist ihn schon äußerlich als den ältesten Kuros des Saales. Welche
Merkmale der künstlerischen Gestaltung sind es, die diese kunstgeschichtliche Einordnung
bestätigen? Wir überprüfen unseren archaischen
Stilkatalog. Wozu haben wir ihn?
- Geschlossenheit, strenge
Haltung (säulenartig), Statik, Axialität, Frontalität, Vertikalität, geometrische
Abgrenzungen der Körperpartien, anliegende Hände, regelmäßig geschichtetes Haar,
Schrittstellung (strenge Architektonik), das "archaisches Lächeln" und finden alles
in vollem Umfang wieder.
- Auch die Intention des
Künstlers ist leicht nachvollziehbar: die Idealisierung dieses Jünglings zum Jüngling
schlechthin. Er ist jeder konkreten Situation enthoben; erhoben zu zeitloser Gültigkeit
in die Sphäre der unvergänglichen, göttlichen Schönheit.
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Bevor wir ins Schwärmen
geraten, wenden wir uns vorerst ab. Der "barberinische Faun", der sich im
nächsten Saal der Ruhe hingegeben hat, ein Jüngling zwar, aber ganz anders, nicht
zeitlos, sondern ganz individuell, in tiefem Schlaf zu Stein erstarrter
Augenblick, will
uns zwar die ganze Zeit schon magisch zu sich hinüber ziehen, doch wir widerstehen.
- Der "Jüngling
aus Attika", der sogenannte "Münchner Kuros"
hätte es nicht verdient, übergangen zu werden, zumal er uns augenfällig bestätigt, was
wir über die innere Entwicklung der archaischen Plastik gelernt haben: Zunehmende
Beweglichkeit, größere Freiheit der Arme, Schwellkraft der Muskulatur an Armen und
Beinen und in der Lendengegend; Volumen statt Fläche; kraftvolle innere Gespanntheit. Der
Übergang der einzelnen Körperpartien ist nicht mehr geometrisch abgegrenzt, sondern
beginnt zu fließen. Grabstatue, aber schwellende Lebenskraft! Wird so der Tod
überwunden? Die angegebene Datierung (540/530 v. Chr.) bestätigt unsere stilistischen
Beobachtungen. Zu Hause, spätestens im Nationalmuseum in Athen (3851), werden wir ihn mit
dem "Kroisos",
dem "Jüngling von Anavyssos" vergleichen. Sieht er ihm nicht so ähnlich, dass
er sein Bruder sein könnte?
.
- Jetzt aber zum "Schlafenden Satyrn".
Er könnte sonst zuvor aus
seinem Rausch erwachen. Auch ein erstarrter Augenblick hat ja einmal ein Ende. Wir
springen gleichsam aus der Romanik in das Barock, aus der Archaik in den Hellenismus,
wobei wir gerade diese Plastik als Muster für die freien Bewegungen des hellenistischen Achsensystems verwenden können. Wäre der Satyr
nüchtern und wach, würde er sich unseren Blicken sofort entziehen. So paradox es klingen
mag: erst dadurch, dass er im Schlaf entrückt ist, ist seine Präsenz bis zu einem
Höchstmaß gesteigert.
Wir bewundern ihn wie alle, die ihn seit seiner Entdeckung im 17. Jh. (unter Papst Urban
VII.) sehen durften, und verlassen, um ihn nicht zu wecken, auf leisen Sohlen seinen
Schlafraum. Wir gelangen in den |
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- Saal des Diomedes.
Wir sind Diomedes erst gestern im Haus der Kunst in der "Palladionraubgruppe des
Nikeratos" in der Odysseusausstellung begegnet. Wer ist dieser allgegenwärtige
Diomedes? Hast Du nicht die Ilias gelesen? Oder wenigstens das 5. Buch? Denn dort hat er,
der Sohn des Tydeus, einer der größten Griechenhelden vor Troja, seine Aristie. Im 10.
Buch unternimmt er zusammen mit Odysseus den Spähergang in das Lager der Trojaner,
später raubt er mit ihm zusammen das Palladion aus der Stadt.
Doch jetzt zu unserem "Diomedes des Kresilas" (ca. 450/40),
unserer ersten klassischen Figur. Wir zitieren aus der Beschreibung
von B. Andreae in seinem Katalog zur Ausstellung (Andreae,
67). Er beschreibt sie dort im Vergleich mit anderen Darstellungen:
"In all diesen Fällen trägt die Figur ein Palladion
im linken Arm, muss also Diomedes darstellen. Der Körperrhythmus
ist nur durch die Kopie aus Cumae in Neapel überliefert.
Sie hat rechtes Standbein und linkes, auf die Spitze des Fußes
nach links hinten zurückgesetztes Spielbein und wendet den
Kopf entschieden nach ihrer rechten Seite.
Wir vergegenwärtigen uns unsere Stilmerkmale für die Klassik und beurteilen, inwieweit
sie auf den Diomedes zutreffen:
- Auflösung der inneren
Gebundenheit und des In-Sich-Ruhens in eine gelöste Bewegtheit. Das archaische
Ausschreiten diente der erhöhten Statik der Statue, das klassische befreit die Figur zur
Bewegung im Raum hin.
- Auflösung der reinen
Vertikalität und Frontalität zugunsten innerlich gespannter, doch harmonischer
Bewegungskonstellation, die mit der heraklitischen palivntono" aJrmoniva zutreffend
beschrieben werden kann.
- Kontrapost: Standbein und
Spielbein, seitliche Verschiebung des Oberkörpers und der Kopfhaltung (Achsensystem)
- Ernsthaftigkeit in Ausdruck
und Haltung statt des stereotypen "archaischen Lächelns". Harmonische
Gelassenheit.
- Idealisiertes Menschentum
(Quintilian: "Polyklet und Phidias gehen beide über die Natur hinaus, läutern
und steigern die menschliche Form ; jener (Polyklet) zur Schönheit, dieser (Phidias) zur
Erhabenheit.")
.
- Saal der Mnesarete: Er hat
seinen Namen von dem Grabrelief der Mnesarete (ca. 380 v. Chr.).
Wir beschränken uns hier auf eine Beschreibung dessen was wir sehen und vergleichen
unsere Beobachtungen mit denen eines Profis.
ΜΝΗΣΑΡΕΤΗ
ΣΩΚΡΑΤΟΥΣ
ἥδε πόσιν
τ’ ἔλιπεν
καὶ ἀδελφοὺς
μητρί τε πένθος
καὶ τέκνον
μεγάλης τε
ἀρετῆς εὔκλεαν
ἀγήρω.
ἐνθάδε τὴμ
πάσης ἀρετῆς
ἐπὶ τέρμα
μολοῦσαν
Μνησαρέτην
κατέχε Φερσεφόνης
θάλαμος
IG II/III2 12151 |
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Wir können nur dabei
lernen: D. Ohly (S. 33): "Mnesarete sitzt gesenkten
Hauptes auf einem Stuhl mit zierlich gedrechselten Beinen, die Füße auf einen
wohlgeformten Schemel gestützt. Mit der Rechten hat sie den Saum ihres Mantels erfasst,
als wolle sie sich verhüllen.Ein junges Mädchen steht
mit verschränkten Händen vor ihr. Tiefste Stille umgibt die beiden Gestalten, die in
schweigsamer, einer ganz dem Bereich der
Seele angehörenden Zwiesprache verbunden sind. Der Grabstein nennt auf dem Gesims des
bekrönenden Giebels den Namen der Verstorbenen: 'Mnesarete, (die Tochter) des
Sokrates'. Auf dem von Pfeilern getragenen Gebälk der großen Platte steht ein
Epigramm: 'Diese ließ ihren Mann zurück und Geschwister, und der Mutter den Schmerz,
auch ihr Kind, und nicht alternden Ruf großer Tugend. Hier (im Grab) hält Persephones
Gemach Mnesarete umfangen, die zum Ziel jeglicher Tugend gelangte.' - [...] (der Sinn
ihres Namens ist 'die auf Tugend Bedachte')".
(Bildquelle) Es ist
schon überraschend, was sich am toten Stein über das Visuelle hinaus auch an Seelischem
beobachten lässt! |
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- Saal der Eirene:
Das Original der Friedensgöttin mit dem Plutos-Knäblein auf dem Arm (Bildquelle)
war anlässlich eines
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Friedensschlusses zwischen Athen
und Sparta ca. 370 v. Chr. auf der Athener Agora aufgestellt
worden. Sie macht auf den Zusammenhang zwischen Frieden
und Reichtum aufmerksam: Der Friede erscheint als Mutter
("die erste Madonna der abendländischen Kunst", Boardman 173), der Reichtum als
ihr Kind. Die Statue wird Kephisodot (dem Vater Schüler
des Praxiteles) zugeschrieben. Sie stammt aus der Zeit der
Späten Klassik, für die die wir uns folgende spärlichen
und wenig aussagekräftigen Stilmerkmale notiert hatten:
- mehr persönliche statt
heroische Auffassung
- weiche Beseeltheit statt
große Klarheit
- "neue Festigkeit und
feierlicher Ernst", Boardman 173
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- Saal des Grabreliefs mit
dem Jäger
Jüngling in gelöster,
fast ermattet schlaffer Sitzhaltung. Er hält das Wurfholz, das man bei der Hasenjagd
benutzte in der rechten Hand. Sein treuer Jagdhund nimmt Abschied von ihm. |
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- Saal der Westgiebelgruppe des Tempels von Aigina (Nach der Bildvorlage
bei D. Ohly, S. 57)
Der Westgiebel stellte die Telamonsöhne Aias und Teukros im Kampf vor
Troja dar.
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Schild des von Paris ver- wun- deten
Grie- chen |
vom troja- nischen Schüt- zen
getrof- fener Grie- che |
Kämpferpaar |
trojan. Bogen- schüt- ze: Paris |
wei- chen- der Geg- ner |
Aias als Vor- käm-
pfer |
Athena im Zen- trum |
Troja- ner als Vor- kämp- fer |
wei- chen- der Gegner |
griech. Bogen- schütze: Teukros |
Kämpferpaar |
von Teukros getrof- fener Troja- ner |
Helm des ge- troffe- nen Troja- ners |
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Verwun- deter |
Angrei- fer |
An- greifer |
Ver- wun- deter |
- Saal der Sphinx
- Saal der Ostgiebelgruppe des Tempels von Aigina
Der Ostgiebel über dem Eingang zum Tempel stellte die erste Eroberung
Trojas durch Telamon und Herakles dar. König von Troja war damals Laomedon. Ihn und alle
seine Söhne außer Priamos erschoss Herakles mit seinem Bogen.
(Externe Bildquelle)
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Lao- medon von Hera-
kles erschos- sen |
trojan. Bogen- schüt- ze |
trojan. Helfer |
tau- meln- der trojan. Geg- ner |
Tela- mon als Vor-
käm- pfer |
Athe- na im Zen-
trum |
Pria- mos als Vor-
käm- pfer |
tau- meln- der griech. Geg- ner |
griech. Helfer bringt den ver- lore-
nen Helm |
Hera- kles trifft
Lao- me- don |
vom Tro- janer getrof- fener Grie-
che |
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Stilistischer Vergleich der
beiden Giebelgruppen:
Westgiebelgruppe |
Ostgiebelgruppe |
Archaisch (Spätarchaisch, Ende 6. Jh.) |
- Athena:
ruhig stehend, gebunden, haltend, frontal, distanziert beobachtend;
archaischer Kore-Typ: enger Schrittstand, glatte regelmäßige Gewandfaltung, perlenartig
gereihte Haarlocken.
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- Figuren (allg.):
- Statik: bewegt, aber eine in
sich gebundene, verharrende, straff gespannte Bewegtheit: z.B. Weichen des Kriegers (statt
Taumeln)
- größere Flächigkeit der dem
Herakles entsprechenden Figur des Bogenschützen
- verklärte Anmut, schwerelose
Heiterkeit ("archaisches Lächeln") selbst beim Sterben
- "Agieren in naiver
Unschuld". Einbettung in den umgreifenden Schicksalszusammenhang (Ohly,
67)
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- Raumkonzeption:
- Größere Figurenzahl (13); die
"Größe" der Komposition entsteht durch Anhäufung der
Einzelfiguren (quantitatives Kriterium: Summation)
- Vereinzelte Gruppen:
friesartig, flächenhaft
- Giebelfeld als Stellplatz
(Schaufenster)
- Figuren in ihrer Gesamtheit
zentrifugal nach links und rechts außen gerichtet (isolierte Gruppen)
- Bogenschützen binden jeweils
nur die Vierergruppen zusammen
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Klassisch (Strenger Stil, 490 - 480 v. Chr.) |
- Athena: bewegt ausschreitend (Fußstellung,
Kniebeuge, Körperwendung), gelöst, schüttelnd, seitlich (gegen Priamos) ausgerichtet,
erregt, engagiert teilnehmend.
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- Figuren (allg.):
- Dynamik: ausgreifende,
gelöste, bezogene und interaktive Bewegtheit; Drehungen, Wendungen: z.B. Taumeln des Kriegers
(statt Weichen)
- Dehnung und Schwellung der
Muskulatur Herakles durch bewusste Anstrengung
- individuellere Ernsthaftigkeit
im Ausdruck der Figuren. Der Tod wird leidvoll hingenommen
- Willensmäßigeres, bewussteres
Handeln (Ohly, 67). Stärker eigenverantwortliches Agieren
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- Raumkonzeption:
- Reduzierung der Figurenzahl;
die "Größe" der Komposition entsteht durch die Zuordnung der Einzelfiguren
(qualitatives Kriterium: kompositionelle Dichte)
- Integration zu einem
Gesamtkonzept
- Giebelfeld als Kampffeld
(Bühne)
- Figuren zentripetal nach innen
auf ein kompositionelles und ideelles Zentrum hin ausgerichtet
- Bogenschützen, deren
Schuss den Raum durchquert und vereinheitlicht
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Das Verweilen bei den
"Ägineten" ist gerechtfertigt. Sie bilden das Zentrum der Ausstellung und den
Höhepunkt unseres Rundgangs. Et docent et delectant. Gleichwohl reißen wir uns los und
zollen auch den übrige Sälen wenn auch nicht die gebührende, so doch eine angemessene
Aufmerksamkeit:
- Saal des Alexander
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Wir greifen nur noch den
Kopf heraus, der dem Saal den Namen gegeben hat: Der "Alexander Rondanini", der
nach einem Werk des Euphranor (338/336 v. Chr.) gearbeitet wurde. War 338 v. Chr. nicht
die Schlacht von Chaironea? Welche Rolle spielte der junge Alexander dabei? Wir werden uns
vor Ort an diesen Kopf erinnern.
(Bildquelle) |
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- Saal der römischen Bildnisse
Der Katalog verzeichnet 64 Statuen und einige Reliefs und Architekturstücke. Ein
unerschöpfliches Geschichtsbuch aus Stein für die Römische Kaiserzeit. Wir aber fahren
nach Griechenland. Das soll keine Ausrede dafür sein, dass wir die genauere Betrachtung
dieses Saales auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
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- Saal des Apollon
Kaiser Augustus hatte zum Dank für seinen Sieg bei Actium (31. v. Chr.) auf dem Palatin
den Apollontempel geweiht. Dessen Kultbild dürfte das Vorbild für unseren Leier
spielenden "Apollo Barberini" sein, der aus einer Villa in Tusculum stammt.
Angeblich geht er auf ein Werk des Bildhauers Skopas zurück.
- Saal des Knaben mit der
Gans
In diesem Saal gefallen uns besonders zwei für den Hellenismus typische Genrebilder.
Natürlich der "Knabe mit der Gans", der dem Saal den Namen gegeben hat, ebenso
aber auch "die trunkene Alte".
Der "die Gans würgende Knabe" ("infans amplexando anserem
strangulat") soll im Original das Bronzebild eines Künstlers mit Namen Boethos sein.
München beansprucht für sich die besterhaltene Kopie.
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Die "Trunkene
Alte" ("anus ebria") soll das Marmorstandbild des Myron von Theben aus dem
ausgehenden 3. Jh. gewesen sein. Es stand in Smyrna. Die Münchner Alte ist die einzige
Kopie, bei der sich der Kopf erhalten hat. Drehbewegung, vorgesteckter linker Fuß,
hilfesuchend aufgerichteter Kopf. Die krankhafte Trunkenheit der Frau wird mit
schonungslosem Realismus dargestellt: faltig, fast zahnlos, verkrampft, ausgemergelt,
verfallen. Eine neuartige Haltung ist das Sitzen am Boden. |
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(Offizielle Seite der
Glyptothek München)
Literatur:
- Boardman,
Dörig, Fuchs, Hirmer: Die griechische Kunst, München (Hirmer) 1992
- D. Ohly:
Glyptothek München, München (Beck) 8/1997
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