L.Feuerbach |
Das Wesen des Christentums, Stuttgart (Reclam)
1971 (3/1849) |
Inhalt
- Vorwort zur
ersten Auflage: Religion und Philosophie - Glaube
und Vernunft.
- 2. Kap.: Das Wesen der Religion
im allgemeinen a) Gott ist das ausgesprochene
Selbst des Menschen b.) Gott als Projektion des menschlichen
Wesens
- 3. Kap.: Das wahre, d.i.
anthropologische Wesen der Religion. Gott als Wesen
des Verstandes
- 4. Kap.: Gott als moralisches
Wesen oder Gesetz
- 10. Kap.: Das Geheimnis
des Mystizismus oder der Natur in Gott Die Persönlichkeit
ist das absolute Wesen
- 13. Kap.: Die Allmacht
des Gemüts oder das Geheimnis des Gebets:
Gott ist die Liebe - d.h. das Gemüt ist der Gott
des Menschen
- 19. Kap.: Der christliche
Himmel oder die persönliche Unsterblichkeit:
Das Jenseits ist nichts anderes als das Diesseits
- 20. Kap.: Der wesentliche
Standpunkt der Religion Religion als Praxis
- Wissenschaft als Theorie
- 28. Kap.: Schlußanwendung:
Religionskritik
|
1.) Vorwort zur ersten
Auflage: Religion und Philosophie - Glaube und Vernunft.
Vorliegendes Werk enthält die Elemente, wohlgemerkt!
nur die und zwar kritischen Elemente zu einer Philosophie
der positiven Religion der Offenbarung, aber natürlich,
wie sich im voraus erwarten läßt, einer Religionsphilosophie
weder in dem kindisch phantastischen Sinne unserer christlichen
Mythologie, die sich jedes Ammenmärchen der Historie
als Tatsache aufbinden läßt, noch in dem pedantischen
Sinne unserer spekulativen Religionsphilosophie, welche, wie
weiland die Scholastik, den articulus fidei ohne weiteres
als eine logisch-metaphysische Wahrheit demonstriert.
Die spekulative Religionsphilosophie opfert die Religion
der Philosophie, die christliche Mythologie die Philosophie
der Religion auf; jene macht die Religion zu einem Spielball
der spekulativen Willkür, diese die Vernunft zum Spielball
eines phantastischen religiösen Materialismus; jene läßt
die Religion nur sagen, was sie selbst gedacht und weit besser
sagt, diese läßt die Religion anstatt
der Vernunft reden; jene, unfähig, aus sich
herauszukommen, macht die Bilder der Religion zu ihren eigenen
Gedanken, diese, unfähig, zu sich zu kommen,
die Bilder zu Sachen.
Es versteht sich allerdings von selbst, dass Philosophie
oder Religion im allgemeinen, d.h. abgesehen von ihrer spezifischen
Differenz, identisch sind, dass, weil es ein und dasselbe
Wesen ist, welches denkt und glaubt, auch die Bilder der Religion
zugleich Gedanken und Sachen ausdrücken, ja, dass jede
bestimmte Religion, jede Glaubensweise auch zugleich eine
Denkweise ist, indem es völlig unmöglich ist, dass
irgendein Mensch etwas glaubt, was wirklich wenigstens seinem
Denk- und Vorstellungsvermögen widerspricht. So ist das
Wunder dem Wundergläubigen nichts der Vernunft Widersprechendes,
vielmehr etwas ganz Natürliches, als eine sich von selbst
ergebende Folge der göttlichen Allmacht. die gleichfalls
für ihn eine sehr natürliche Vorstellung ist. So
ist dem Glauben die Auferstehung des Fleisches aus dem Grabe
so klar, so natürlich als die Wiederkehr der Sonne nach
ihrem Untergang, das Erwachen des Frühlings nach dem
Winter, die Entstehung der Pflanze aus dem in die Er- de gelegten
Samen. Nur wann der Mensch nicht mehr in Harmonie mit seinem
Glauben ist, fühlt und denkt, der Glaube also keine den
Menschen mehr penetrierende Wahrheit ist, nur dann erst wird
der Widerspruch des Glaubens, der Religion mit der Vernunft
mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Allerdings erklärt
auch der mit sich einige Glaube seine Gegenstände für
unbegreiflich, für widersprechend der Vernunft, aber
er unterscheidet zwischen christlicher und heidnischer, erleuchteter
und natürlicher Vernunft. Ein Unterschied, der übrigens
nur so viel sagt: Dem Unglauben nur sind die Glaubensgegenstände
vernunftwidrig; aber wer sie einmal glaubt, der ist von ihrer
Wahrheit überzeugt, dem gelten sie selbst als die höchste
Vernunft.
Aber auch inmitten dieser Harmonie zwischen dem christlichen
oder religiösen Glauben und der christlichen oder religiösen
Vernunft bleibt doch immer ein wesentlicher Unterschied zwischen
dem Glauben und der Vernunft übrig, weil auch der Glaube
sich nicht der natürlichen Vernunft entäußern
kann. Die natürliche Vernunft ist aber nichts anderes
als die Vernunft katV ejxochvn ["schlechthin"],
die allgemeine Vernunft, die Vernunft mit allgemeinen
Wahrheiten und Gesetzen; der christliche Glaube oder, was
eins ist, die christliche Vernunft dagegen ist ein Inbegriff
besonderer Wahrheiten, besonderer Privilegien und Exemptionen
["Ausnahmen"], also eine besondere Vernunft.
Kürzer und schärfer: Die Vernunft ist die Regel,
der Glaube die Ausnahme von der Regel. Selbst in der besten
Harmonie ist daher eine Kollision zwischen beiden unvermeidlich,
denn die Spezialität des Glaubens und die Universalität
der Vernunft decken sich, sättigen sich nicht vollkommen,
sondern es bleibt ein Überschuß von freier Vernunft,
welcher für sich selbst, im Widerspruch mit
der an die Basis des Glaubens gebundenen Vernunft, wenigstens
in besonderen Momenten, empfunden wird. So wird die Differenz
zwischen Glauben und Vernunft selbst zu einer psychologischen
Tatsache. [5-7]
2. KapDas Wesen der Religion
im allgemeinen
a) Gott ist das ausgesprochene Selbst des Menschen
Im Verhältnis zu den sinnlichen Gegenständen ist
das Bewußtsein des Gegenstandes wohl unterscheidbar
vom Selbstbewußtsein; aber bei dem religiösen Gegenstand
fällt das Bewußtsein mit dem Selbstbewußtsein
unmittelbar zusammen. Der sinnliche Gegenstand ist außer
dem Menschen dar, der religiöse in ihm, ein
selbst innerlicher, - darum ein Gegenstand, der ihn
ebensowenig verläßt, als ihn sein Selbstbewußtsein,
sein Gewissen verläßt -, ein intimer, ja der allerintimste,
der allernächste Gegenstand. "Gott", sagt z.B.
Augustin, "ist uns näher, verwandter und
daher auch leichter erkennbar, als die sinnlichen, körperlichen
Dinge" [De Genesi ad litteram lib. V. c.16]. Der sinnliche
Gegenstand ist an sich ein gleichgültiger, unabhängig
von der Gesinnung, von der Urteilskraft; der Gegenstand der
Religion aber ist ein auserlesener Gegenstand: das
vorzüglichste, das erste, das höchste Wesen; er
setzt wesentlich ein kritisches Urteil voraus, den
Unterschied zwischen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen,
dem Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen.
Und hier gilt daher ohne alle Einschränkung
der Satz: der Gegenstand des Menschen ist nichts anderes als
sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch denkt,
wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: so viel Wert der Mensch
hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewußtsein
Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis
Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem
Gotte erkennst du den Menschen, und wiederum aus dem Menschen
seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott
ist, da ist sein Geist, seine Seele, und was des
Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott:
Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene
Selbst des Menschen; die Religion ist die feierliche Enthüllung
der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis
seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis
seiner Liebesgeheimnisse. [52f.]
b.) Gott als Projektion des menschlichen Wesens
Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten
des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem
Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu
einem anderen Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts anderes
als das menschliche Wesen, oder besser: das Wesen
des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen,
d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht,
d.h. angeschaut und verehrt als ein anderes,
von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen - alle Bestimmungen
des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen
Wesens.
In Beziehung auf die Prädikate, d.h. die Eigenschaften
oder Bestimmungen Gottes, wird dies denn auch ohne Anstand
zugegeben, aber keineswegs in Beziehung auf das Subjekt, d.h.
das Grundwesen dieser Prädikate. Die Verneinung des Subjekts
gilt als Irreligiosität, für Atheismus, nicht aber
die Verneinung der Prädikate. Aber was keine Bestimmungen
hat, das hat auch keine Wirkungen auf mich; was keine Wirkungen,
auch kein Dasein für mich. Alle Bestimmungen aufheben
ist soviel als das Wesen selbst aufheben. Ein bestimmungsloses
Wesen ist ein ungegenständliches Wesen, ein ungegenständliches
Wesen ein nichtiges Wesen. Wo daher der Mensch alle Bestimmungen
von Gott entfernt, da ist ihm Gott nur noch ein negatives,
d.h. nichtiges Wesen.[54f.]
3. Kap.: Das wahre, d.i.
anthropologische Wesen der Religion.
Gott als Wesen des Verstandes
Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit
sich selbst: Er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes
Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch
ist - der Mensch nicht, was Gott ist. Gott
ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen,
der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott
allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig,
der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott
das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten,
der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.
Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein
eigenes geheimes Wesen. Es muss also nachgewiesen werden,
dass dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt von Gott und Mensch,
womit die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen
mit seinem eigenen Wesen ist.
Die innere Notwendigkeit dieses Beweises ergibt sich schon
daraus, dass, wenn wirklich das göttliche Wesen,
welches Gegenstand der Religion ist, ein andres wäre
als das Wesen des Menschen, eine Entzweiung, ein Zwiespalt
gar nicht stattfinden könnte. Ist Gott wirklich ein andres
Wesen, was kümmert mich seine Vollkommenheit? Entzweiung
findet nur statt zwischen Wesen, welche miteinander zerfallen
sind, aber eins sein sollen, eins sein können und folglich
im Wesen, in Wahrheit eins sind. Es muss also schon aus diesem
allgemeinen Grunde das Wesen, mit welchem sich der Mensch
entzweit fühlt, ein ihm eingeborenes
Wesen sein, aber zugleich ein Wesen von anderer Beschaffenheit,
als das Wesen oder die Kraft, welche ihm das Gefühl,
das Bewußtsein der Versöhnung, der Einheit
mit Gott, oder, was eins ist, mit sich selbst gibt.
Dieses Wesen ist nichts andres als die Intelligenz
- die Vernunft oder der Verstand. Gott als
Extrem des Menschen, als nicht menschliches, d.i.
persönlich menschliches Wesen gedacht -, ist das vergegenständlichte
Wesen des Verstandes. Das reine, vollkommne, mangellose,
göttliche Wesen ist das Selbstbewußtsein des
Verstandes, das Bewußtsein des Verstandes von seiner
eignen Vollkommenheit. [80-81]
Gott als Gott, d.h. als nicht endliches, nicht
menschliches, nicht materiell bestimmtes, nicht sinnliches
Wesen ist nur Gegenstand des Denkens. Er ist das
unsinnliche, gestaltlose, unfassbare, bildlose - das abstrakte,
negative Wesen; er wird nur durch Abstraktion und
Negation (via negationis) erkannt, d.i. Gegenstand. Warum?
weil er nichts ist als das gegenständliche Wesen
der Denkkraft, überhaupt der Kraft oder Tätigkeit,
man nenne sie nun, wie man wolle, wodurch sich der Mensch
der Vernunft, des Geistes, der Intelligenz bewußt wird.
Der Mensch kann keinen anderen Geist, d.h. - denn der Begriff
des Geistes ist lediglich der Begriff des Denkens,
der Erkenntnis, des Verstandes, jeder andre
Geist ein Gespenst der Phantasie - keine andre Intelligenz
glauben, ahnden, vorstellen, denken als die Intelligenz,
die ihn erleuchtet, die sich in ihm bestätigt. Er kann
nichts weiter, als die Intelligenz absondern von den Schranken
seiner Individualität. Der "unendliche
Geist" im Unterschiede vom endlichen ist daher nichts
anderes als die von den Schranken der Individualität
und Leiblichkeit - denn Individualität und Leiblichkeit
sind untrennbar - abgesonderte Intelligenz - die
Intelligenz, für sich selbst gesetzt oder gedacht.
[83]
Wir haben bewiesen, dass der Inhalt und Gegenstand der Religion
ein durchaus menschlicher ist, bewiesen, dass das Geheimnis
der Theologie die Anthropologie, des göttlichen Wesens
das menschliche Wesen ist. Aber die Religion hat nicht das
Bewußtsein von der Menschlichkeit ihres Inhalts; sie
setzt sich vielmehr dem Menschlichen entgegen, oder wenigstens
sie gesteht nicht ein, dass ihr Inhalt ein menschlicher ist.
Der notwendige Wendepunkt der Geschichte ist daher dieses
offene Bekenntnis und Eingeständnis, dass das Bewußtsein
Gottes nichts anderes ist als das Bewußtsein der Gattung,
dass der Mensch sich nur über die Schranken seiner Individualität
oder Persönlichkeit erheben kann und soll, aber nicht
über die Gesetze, die Wesensbestimmung seiner Gattung,
dass der Mensch kein anderes Wesen als absolutes, als göttliches
Wesen denken, ahnen, vorstellen, fühlen, glauben, wollen,
lieben und verehren kann als das menschliche Wesen.
4. Kap.: Gott als moralisches
Wesen oder Gesetz
Die in der Religion, zumal der christlichen, vor allen anderen
hervortretende Verstandes- oder Vernunftsbestimmung Gottes
ist die der moralischen Vollkommenheit. Gott als
moralisch vollkommenes Wesen ist aber nichts andres
als die realisierte Idee, das personifizierte
Gesetz der Moralität, das als absolutes Wesen
gesetzte moralische Wesen des Menschen - des Menschen
eigenes Wesen; denn der moralische Gott selbst stellt
die Forderung an den Menschen, zu sein, wie Er selbst
ist: "Heilig ist Gott, ihr sollt heilig sein, wie
Gott", - des Menschen eigenes Gewissen,
denn wie könnte er sonst vor dem göttlichen Wesen
erzittern, vor ihm sich anklagen, wie es zum Richter seiner
innersten Gedanken und Gesinnungen machen? [97]
10. Kap.: Das Geheimnis
des Mystizismus oder der Natur in Gott
Die Persönlichkeit ist das absolute Wesen
Die Persönlichkeit von Gott aussagen heißt nichts
anderes als die Persönlichkeit für das absolute
Wesen erklären; aber die Persönlichkeit wird nur
im Unterschiede, in der Abstraktion von der Natur
erfasst. Freilich ist ein nur persönlicher Gott
ein abstrakter Gott; aber das soll er sein,
das liegt in seinem Begriffe; denn er ist nichts anderes,
als das sich außer allen Zusammenhang mit der Welt
setzende, sich von aller Abhängigkeit von der Natur
freimachende persönliche Wesen des Menschen.
In der Persönlichkeit Gottes feiert der Mensch die
Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit, Unabhängigkeit
und Unbeschränktheit seiner eigenen Persönlichkeit.
[167f.]
13. Kap.: Die Allmacht
des Gemüts oder das Geheimnis des Gebets
Gott ist die Liebe - d.h. das Gemüt ist der Gott
des Menschen
Gott ist die Liebe - d.h. das Gemüt ist der Gott
des Menschen, ja Gott schlechtweg, das absolute Wesen. Gott
ist das sich gegenständliche Wesen des Gemüts, das
schlackenfreie, reine Gemüt - Gott ist der in
das Tempus finitum [h.: "die ein Faktum anzeigende bestimmte
Zeitform"], in das gewisse selige Ist verwandelte Optativ
des menschlichen Herzens, die rücksichtslose Allmacht
des Gefühls, das sich selbst erhörende Gebet,
das sich selbst vernehmende Gemüt, das Echo unserer Schmerzenslaute.
Äußern muss sich der Schmerz; unwillkürlich
greift der Künstler nach der Laute, um in ihren Tönen
seinen eigenen Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt seinen
Schmerz, indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegenständlicht;
er erleichtert die Last, die auf seinem Herzen ruht, indem
er sie der Luft mitteilt, seinen Schmerz zu einem allgemeinen
Wesen macht. Aber die Natur erhört nicht die Klagen des
Menschen - sie ist gefühllos gegen seine Leiden. Der
Mensch wendet sich daher weg von der Natur, weg von den sichtbaren
Gegenständen überhaupt - er kehrt sich nach innen,
um hier, verborgen und geborgen vor den gefühllosen Mächten,
Gehör für seine Leiden zu finden. Hier spricht er
seine drückenden Geheimnisse aus, hier macht er seinem
gepreßten Herzen Luft. Diese freie Luft des Herzens,
dieses ausgesprochne Geheimnis, dieser entäußerte
Seelenschmerz ist Gott. Gott ist eine Träne
der Liebe in tiefster Verborgenheit, vergossen über das
menschliche Elend. "Gott ist ein unaussprechlicher
Seufzer, im Grund der Seelen gelegen" - dieser Ausspruch
ist der merkwürdigste, tiefste, wahrste Ausspruch [Sebastian
Frank von Wörd in Zinkgrefs Apophtegmata deutscher Nation]
der christlichen Mystik. [197f.]
19. Kap.: Der christliche
Himmel oder die persönliche Unsterblichkeit
Das Jenseits ist nichts anderes als das Diesseits
Wie Gott nichts anderes ist als das Wesen des Menschen, gereinigt
von dem, was dem menschlichen Individuum, sei es nun im Gefhl
oder Denken, als Schranke, als Übel erscheint: so ist
das Jenseits nichts anderes als das Diesseits, befreit von
dem, was als Schranke, als Übel erscheint. [279] [...]
Der Mensch trennt sich in der Religion von sich selbst, aber
nur, um immer wieder auf denselben Punkt zurückzukommen,
von dem er ausgelaufen. Der Mensch verneint sich, aber
nur um sich wieder zu setzen, und zwar jetzt in verherrlichter
Gestalt. So verwirft er auch das Diesseits, aber nur um am
Ende es als Jenseits wieder zu setzen. [280]
Wie der Mensch in der Entfernung von sich, in Gott immer
wieder nur auf sich selbst zurückkommt, immer nur sich
um sich selbst dreht, so kommt der Mensch auch in der
Entfernung vom Diesseits immer wieder zuletzt nur auf dasselbe
zurück. Je außer- und übermenschlicher Gott
im Anfang erscheint, desto menschlicher zeigt er sich im Verlaufe
oder Schluß. [281]
Aber der Inhalt des Jenseits ist die Seligkeit, die ewige
Seligkeit der Persönlichkeit, die hier durch die Natur
beschränkt und beeinträchtigt existiert. Der Glaube
an das Jenseits ist daher der Glaube an die Freiheit der
Subjektivität von den Schranken der Natur - also
der Glaube an die Ewigkeit und Unendlichkeit der Persönlichkeit,
und zwar nicht in ihrem Gattungsbegriffe, der sich in immer
neuen Individuen entfaltet, sondern dieser bereits existierenden
Individuen - folglich der Glaube des Menschen an sich selbst.
Aber der Glaube an das Himmelreich ist eins mit dem Glauben
an Gott - es ist derselbe Inhalt in beiden - Gott ist die
reine, absolute, von allen Naturschranken erledigte Persönlichkeit:
er ist schlechtweg, was die menschlichen Individuen nur sein
sollen, sein werden - der Glaube an Gott
daher der Glaube des Menschen an die Unendlichkeit und
Wahrheit seines eigen- en Wesens - das göttliche
Wesen das menschliche, und zwar subjektiv menschliche Wesen
in seiner absoluten Freiheit und Unbeschränktheit.
Unsere wesentliche Aufgabe ist hiermit erfüllt. Wir
haben das außerweltliche, übernatürliche und
übermenschliche Wesen Gottes reduziert auf die Bestandteile
des menschlichen Wesens als seine Grundbestandteile. Wir sind
im Schlusse wieder auf den Anfang zurückgekommen. Der
Mensch ist der Anfang der Religion, der Mensch der Mittelpunkt
der Religion, der Mensch das Ende der Religion. [283]
20. Kap.: Der wesentliche
Standpunkt der Religion
Religion als Praxis - Wissenschaft als Theorie
Der wesentliche Standpunkt der Religion ist der praktische,
d.h. hier der subjektive. Der Zweck der Religion ist das Wohl,
das Heil, die Seligkeit des Menschen, die Beziehung des Menschen
auf Gott. [284] [...] Aber eben deswegen, weil die Religion
nichts weiß von dem Standpunkt, von dem Wesen der Theorie,
so bestimmt sich das ihr verborgene, nur dem theoretischen
Auge gegenständliche, wahre, allgemeine Wesen der Natur
und Menschheit zu einem andern, wunderbaren, übernatürlichen
Wesen - der Begriff der Gattung zum Begriffe Gottes,
der selbst wieder ein individuelles Wesen ist, aber sich dadurch
von den menschlichen Individuen unterscheidet, dass er die
Eigenschaften derselben im Maße der Gattung besitzt.
Notwendig setzt daher in der Religion der Mensch sein Wesen
außer sich, sein Wesen als ein anderes Wesen
- notwendig, weil das Wesen der Theorie außer ihm liegt,
weil all sein bewußtes Wesen aufgeht in die
praktische Subjektivität. Gott ist sein andres Ich,
seine andere, verlorne Hälfte; in Gott ergänzt
er sich; in Gott ist er erst vollkommner
Mensch. Gott ist ihm ein Bedürfnis; es fehlt
ihm etwas, ohne zu wissen, was ihm fehlt - Gott ist dieses
fehlende Etwas, Gott ihm unentbehrlich; Gott gehört
zu seinem Wesen. Die Welt ist der Religion Nichts - die
Welt, die nichts andres ist als der Inbegriff der Wirklichkeit,
in ihrer Herrlichkeit offenbart nur die Theorie;
die theoretischen Freuden sind die schönsten
intellektuellen Lebensfreuden; aber die Religion weiß
nichts von den Freuden des Denkers, nichts von den Freuden
des Naturforschers, nichts von den Freuden des Künstlers.
Ihr fehlt die Anschauung des Universums, das Bewußtsein
des wirklichen Unendlichen, das Bewußtsein
der Gattung. Nur in Gott ergänzt sie den Mangel des Lebens,
den Mangel eines wesenhaften Inhalts, den in unendlicher Fülle
das wirkliche Leben der vernünftigen Anschauung darbietet.
Gott ist ihr der Ersatz der verlornen Welt - Gott
ist ihr die reine Anschauung, das Leben der Theorie.
[298f.]
28. Kap.: Schlußanwendung:
Religionskritik
Unser Verhältnis zur Religion ist daher kein nur
verneinendes, sondern ein kritisches; wir scheiden
nur das Wahre vom Falschen - obgleich allerdings
die von der Falschheit ausgeschiedene Wahrheit immer eine
neue, von der alten wesentlich unterschiedene
Wahrheit ist. Die Religion ist das erste Selbstbewußtsein
des Menschen. Heilig sind die Religionen, eben weil sie die
Überlieferungen des ersten Bewußtseins sind. Aber
was der Religion das Erste ist, Gott, das ist, wie bewiesen,
an sich, der Wahrheit nach nur das Zweite, denn er ist nur
das sich gegenständliche Wesen des Menschen,
und was ihr das Zweite ist, der Mensch, das muss daher als
das Erste gesetzt und ausgesprochen werden. Die Liebe
zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muss zur ursprünglichen
werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige,
zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das
höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch
das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum
Menschen sein. Homo homini deus est - dies ist
der oberste praktische Grundsatz - dies ist der Wendepunkt
der Weltgeschichte. [400f.] |