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Lucius Annaeus Seneca

Aus Senecas Briefen
(Sen.epist.95)
Allgemeine und besondere Sittenlehre

 

 
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Deutsche Übersetzung nach August Pauly bearbeitet von E. Gottwein
zu "Seneca" und "Pauly"
4619
Seneca / Pauly
Lucius Annäus Seneca des Philosophen Werke, 12.-115. Bändchen. Briefe, übersetzt von August Pauly
Stuttgart (Metzler) 1832-1836
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 SENECA LUCILIO SUO SALUTEM
Seneca grüßt seinen Lucilius
(95,1) Petis a me, ut id, quod in diem suum dixeram debere differri, repraesentem et scribam tibi, an haec pars philosophiae, quam Graeci paraeneticen vocant, nos praeceptivam dicimus, satis sit ad consummandam sapientiam. Scio te in bonam partem accepturum, si negavero. Eo magis promitto et verbum publicum perire non patior: "postea noli rogare quod inpetrare nolueris." Interdum enim enixe petimus id, quod recusaremus, si quis offerret.
1. Du verlangst, dass sich das, wovon ich sagte, es müsse auf seinen besonderen Tag verschoben werden, nun ohne weiteren Verzug vornehmen und dir schreiben soll, ob der Teil der Philosophie, den die Griechen den paränetischen, wir aber den präceptiven nennen, hinreiche, um die Weisheit vollständig zu machen. Ich weiß, dass du es günstig aufnehmen wirst, wenn ich es abschlage. Um so mehr sage ich es dir zu und lasse das altbekannte Wort nicht untergehen: "In Zukunft bitte um nichts, was du nicht zu erhalten wünschst!" Denn zuweilen bitten wir inständig um etwas, was wir zurückweisen würden, wenn es uns jemand anböte.
(95,2) Haec sive levitas est sive vernilitas, punienda est promittendi facilitate. Multa videri volumus velle, sed nolumus. Recitator historiam ingentem attulit minutissime scriptam, artissime plictam, et magna parte perlecta: "desinam," inquit, "si vultis": adclamatur: "recita, recita" ab iis, qui illum ommutescere illic cupiunt. Saepe aliud volumus, aliud optamus, et verum ne dis quidem dicimus, sed dii aut non exaudiunt aut miserentur.
2. Mag dies nun Leichtsinn oder übertriebene Artigkeit sein, es muss durch willfährige Zusage bestraft werden. Bei vielem wollen wir scheinen, es zu wünschen, wünschen es aber (in der Tat) nicht. Ein Vorleser hat eine gewaltig lange Geschichte, so klein als möglich geschrieben und so eng wie möglich gerollt, mitgebracht und sagt, nachdem er einen großen Teil vorgelesen hat: "Ich will aufhören, wenn ihr es wünscht." - " Lies doch, lies!" wird ihm zu gerufen von Leuten, die wünschen, dass er auf der Stelle verstumme. Oft verlangen wir etwas anderes, als wir wünschen, und sagen nicht einmal den Göttern die Wahrheit; allein die Götter erhören uns entweder nicht, oder fühlen Mitleid.
(95,3) Ego me omissa misericordia vindicabo et tibi ingentem epistulam inpingam, quam tu si invitus leges, dicito: "ego mihi hoc contraxi", teque inter illos numera, quos uxor magno ducta ambitu torquet, inter illos, quos divitiae per summum adquisitae sudorem male habent, inter illos, quos honores nulla non arte atque opera petiti discruciant, et ceteros malorum suorum compotes.
3. Ich meines Teils will das Mitleid beiseite lassen, mich rächen und dir einen gewaltig langen Brief aufhängen. Wenn du ihn mit Widerwillen liest, so sage dir: "Ich selbst habe mir dies zugezogen und zähle dich unter jene, die ihre nach langer Bewerbung heimgeführte Gattin quält, unter jene, die ihr mit dem äußersten Schweiß erworbener Reichtum ärgert, unter jene, die ihre mit jeder nur denkbaren Kunst und Mühe gesuchten Ehrenstellen peinigen und unter die übrigen, die ihrer (ersehnten) Übel teilhaft geworden sind."
(95,4) Sed ut omisso principio rem ipsam adgrediar, "beata" inquiunt "vita constat ex actionibus rectis; ad actiones rectas praecepta perducunt; ergo ad beatam vitam praecepta sufficiunt". Non semper ad actiones rectas praecepta perducunt, sed cum obsequens ingenium est; aliquando frustra admoventur, si animum opiniones obsident pravae.
4. Doch um die Einleitung zu übergehen und die Sache selbst zu beginnen: Ein glückseliges Leben, sagt man, beruht auf guten Handlungen; zu guten Handlungen aber führen Vorschriften; also genügen Vorschriften zu einem glückseligen Leben. Doch nicht immer führen Vorschriften zu guten Handlungen, sondern (nur) wenn der Geist willig ist; zuweilen werden sie vergebens angewendet, wenn verkehrte Meinungen den Geist einnehmen.
(95,5) Deinde, etiam si recte faciunt, nesciunt facere se recte. Non potest enim quisquam nisi ab initio formatus et tota ratione compositus omnis exsequi numeros, ut sciat, quando oporteat et in quantum et cum quo et quemadmodum et quare. Non potest toto animo ad honesta conari, ne constanter quidem aut libenter, sed respiciet, sed haesitabit.
5. Sodann wissen auch manche gar nicht, dass sie recht tun, auch wenn sie es tun. Denn niemand kann, wenn er nicht gleich von Anfang an ausgebildet und auf jede Weise in Stand gesetzt ist, alle (einzelnen) Punkte verfolgen, um zu wissen, wann und inwieweit und mit wem und wie und warum er etwas tun müsse. Daher kann er nicht mit ganzer Seele dem sittlich Guten nachstreben, nicht einmal anhaltend oder gern; sondern er wird zurückblicken, er wird zaudern.
(95,6) "Si honesta", inquit, "actio ex praeceptis venit, ad beatam vitam praecepta abunde sunt: atqui est illud, ergo et hoc." His respondebimus actiones honestas et praeceptis fieri, non tantum praeceptis.
6. "Wenn tugendhaftes Handeln", sagt man, "aus Vorschriften hervorgeht, so reichen Vorschriften zu einem glückseligen Leben vollkommen hin; nun aber ist jenes der Fall, folglich auch dieses." Hierauf antworten wir, dass tugendhaftes Handlungen auch durch Vorschriften erfolgen, aber nicht bloß durch Vorschriften.
(95,7) "Si aliae", inquit, "artes contentae sunt praeceptis, contenta erit et sapientia; nam et haec ars vitae est. Atqui gubernatorem facit ille, qui praecipit: "sic move gubernaculum, sic vela summitte, sic secundo vento utere, sic adverso resiste, sic dubium communemque tibi vindica". Alios quoque artifices praecepta conformant; ergo in hoc idem poterunt artifice vivendi."
7. "Wenn andere Künste", sagt man, "sich mit Vorschriften begnügen, so wird sich auch die Weisheit damit begnügen, denn auch sie ist die Kunst des Lebens. Nun bildet aber der einen Steuermann, der vorschreibt: so bewege das Steuer, so behandelt die Segel, so benutze den günstigen Wind, so widerstehe dem ungünstigen, so mache dir den zweifelhaften und halben zu Nutze. Auch andere Künstler machen Vorschriften fest (in ihrer Kunst); also werden auch die Künstler des Lebens hierin das Gleiche erreichen."
(95,8) Omnes istae artes circa instrumenta vitae occupatae sunt, non circa totam vitam; itaque multa illas inhibent extrinsecus et inpediunt, spes, cupiditas, timor. At haec, quae artem vitae professa est, nulla re, quominus se exerceat, vetari potest; discutit enim inpedimenta et iactat obstantia. Vis scire, quam dissimilis sit aliarum artium condicio et huius? in illis excusatius est voluntate peccare quam casu, in hac maxima culpa est sponte delinquere.
8. Alle jene Künste sind nur mit den Werkzeugen des Lebens beschäftigt, nicht mit dem ganzen Leben. Daher hemmt und hindert sie vieles von außen her, Hoffnung, Begierde, Furcht. Aber diese, die sich für die Kunst des Lebens ausgibt, kann durch nichts gehindert werden, sich wirksam zu zeigen. Denn sie zerstreut die Hindernisse und macht sich das Widerstrebende gefügig. Willst du wissen, wie verschieden das Verhältnis der anderen Künste und dieser ist? Bei jenen ist es eher zu entschuldigen, wenn man mit Willen, als durch Zufall fehlt, bei dieser ist es die größte Schuld, freiwillig zu sündigen.
(95,9) Quod dico, tale est. Grammaticus non erubescet soloecismo, si sciens fecit, erubescet, si nesciens; medicus si deficere aegrum non intellegit, quantum ad artem magis peccat, quam si se intellegere dissimulat: at in hac arte vivendi turpior volentium culpa est. Adice nunc, quod artes quoque pleraeque - immo ex omnibus liberalissimae - habent decreta sua, non tantum praecepta, sicut medicina; itaque alia est Hippocratis secta, alia Asclepiadis, alia Themisonis.
9. Was ich meine, ist folgendes: Ein Grammatiker wird nicht über einen Fehler erröten, wenn er ihn mit Wissen macht, er wird (aber) erröten, wenn er ihn ohne Wissen gemacht hat. Ein Arzt, der nicht merkt, dass der Kranke abnimmt, fehlt weit mehr in Hinsicht seiner Kunst, als wenn er sich stellt, es nicht zu bemerken. Bei dieser Kunst zu leben aber ist die Schuld der Wollenden (viel) schimpflicher. Füge noch hinzu, dass auch die meisten Künste, ja gerade die edelsten von allen, ihre eigentümlichen Lehrsätze haben, nicht bloß Vorschriften, wie z.B. die Heilkunde. Daher ist die Schule des Hippokrates eine andere als die des Asklepiades oder die des Themison.
(95,10) Praeterea nulla ars contemplativa sine decretis suis est, quae Graeci vocant dogmata, nobis vel decreta licet appellare vel scita vel placita; quae et in geometria et in astronomia invenies. Philosophia autem et contemplativa est et activa: spectat simul agitque. Erras enim, si tibi illam putas tantum terrestres operas promittere: altius spirat. "Totum", inquit, "mundum scrutor nec me intra contubernium mortale contineo, suadere vobis aut dissuadere contenta:
10. Außerdem ist keine der beschaulichen Künste ohne ihre Lehrsätze, die die Griechen Dogmen nennen, wir aber ebenso gut Beschlüsse als Entscheidungen oder Lehrmeinungen nennen können, wie du sie sowohl in der Geometrie als in der Astronomie finden wirst. Die Philosophie aber ist teils beschaulich (theoretisch), teils selbsttätig (praktisch); sie forscht zugleich und handelt. Denn du irrst, wenn du glaubst, dass sie dir bloß irdische Dienste verspreche; sie atmet Höheres. "Ich durchforsche", sagt sie, "die ganze Welt und beschränke mich nicht auf das Zusammenleben der Sterblichen, zufrieden damit, euch zu raten und abzuraten:
(95,11) Magna me vocant supraque vos posita."
Nam tibi de summa caeli ratione deumque
disserere incipiam et rerum primordia pandam,
unde omnis natura creet res, auctet alatque,
quoque eadem rursus natura perempta resolvat,
ut ait Lucretius (Lucr.nat.1,55ff.). Sequitur ergo, ut, cum contemplativa sit, habeat decreta sua.
11. Hehre und über euch hinausliegende Dinge rufen mich."
Denn von der himmlischen Dinge Natur und dem Wesen der Götter
Will ich dir reden und dir eröffnen die Kenntnis der Stoffe,
Draus die Natur schafft jegliches Ding, es mehrt und ernähret,
Und worin es dieselbe Natur auflöset im Tode,
wie Lucretius sagt (Lucr.nat.1,50ff.). Es folgt also, da sie eine beschauliche ist, dass sie ihre Lehrsätze hat.
(95,12) Quid, quod facienda quoque nemo rite obibit, nisi is, cui ratio erit tradita, qua in quaque re omnis officiorum numeros exsequi possit? quos non servabit, qui in rem praecepta acceperit, non in omne. Inbecilla sunt per se et, ut ita dicam, sine radice, quae partibus dantur. Decreta sunt, quae muniant, quae securitatem nostram tranquillitatemque tueantur, quae totam vitam totamque rerum naturam simul contineant. Hoc interest inter decreta philosophiae et praecepta, quod inter elementa et membra: haec ex illis dependent, illa et horum causae sunt et omnium.
12. Allein auch im Handeln wird keiner seine Obliegenheiten gehörig erfüllen, wenn ihm nicht die Art und Weise gelehrt ist, wie er in jedem Fall der Summe aller seiner Pflichten nachzukommen im Stande sei, die derjenige nicht erfüllen wird, der Vorschriften für den einzelnen Fall, aber nicht fürs Ganze empfangen hat. An sich schwach und sozusagen ohne Wurzeln sind Vorschriften, die nur für einzelne Fälle gegeben werden. Die Lehrsätze sind es, die uns stützen, die unsere Sicherheit und Ruhe verbürgen, die das ganze Leben und die ganze Natur zugleich umfassen. Der Unterschied zwischen den Lehrsätzen der Philosophie und den Vorschriften ist der selbe wies zwischen den Urstoffen und den Gliedern; diese hängen von jenen ab; jene sind die Ursachen von diesen und von allem.
(95,13) "Antiqua" , inquit, "sapientia nihil aliud quam facienda ac vitanda praecepit, et tunc longe meliores erant viri: postquam docti prodierunt, boni desunt; simplex enim illa et aperta virtus in obscuram et sollertem scientiam versa est docemurque disputare, non vivere."
13. "Die alte Weisheit", sagt man, "schreibe nichts weiter vor, als was zu tun und zu unterlassen ist, und damals waren die Menschen weit besser; seitdem die Gelehrten aufgetreten sind, fehlen die Guten. Denn jene einfache und unverstellte Tugend ist in eine dunkle und spitzfindige Wissenschaft verkehrt worden und man lehrt uns diskutieren, nicht leben."
(95,14) Fuit sine dubio, ut dicitis, vetus illa sapientia cum maxime nascens rudis non minus quam ceterae artes, quarum in processu subtilitas crevit. Sed ne opus quidem adhuc erat remediis diligentibus. Nondum in tantum nequitia surrexerat nec tam late se sparserat: poterant vitiis simplicibus obstare remedia simplicia. Nunc necesse est tanto operosiora esse munimenta, quanto vehementiora sunt, quibus petimur.
14. Ohne Zweifel war, wie ihr sagt, jene alte Weisheit, besonders in ihrem Entstehen, ebenso unausgebildet wie die übrigen Künste, deren Verfeinerung im Fortgang zugenommen hat. Aber es waren auch noch keine sorgsam gewählten Mittel nötig. Die Schlechtigkeit war noch nicht so hoch gestiegen und hatte sich noch nicht so weit verbreitet; einfachen Fehlern konnten noch einfache Mittel widerstehen. Jetzt müssen die Schutzmittel mit um so größere Mühe bereitet sein, je heftiger die (Gegner) sind, von denen wir angegriffen werden.
(95,15) Medicina quondam paucarum fuit scientia herbarum, quibus sisteretur fluens sanguis, vulnera coirent; paulatim deinde in hanc pervenit tam multiplicem varietatem. Nec est mirum tunc illam minus negotii habuisse firmis adhuc solidisque corporibus et facili cibo nec per artem voluptatemque corrupto: qui postquam coepit non ad tollendam sed ad inritandam famem quaeri et inventae sunt mille conditurae, quibus aviditas excitaretur, quae desiderantibus alimenta erant, onera sunt plenis.
15. Die Arzneikunde war einst die Kenntnissen weniger Kräuter, wodurch das fließende Blut gestillt und Wunden geschlossen werden konnten; in der Folge gelangte sie allmählich zu dieser so vielseitigen Mannigfaltigkeit. Und es ist kein Wunder, dass sie damals weniger Arbeit hatte, als die Körper noch fest und gediegen und die Speisen leicht, noch nicht durch Kunst und Üppigkeit verdorben waren; seitdem man aber angefangen hat, diese zu suchen, nicht um den Hunger zu stillen, sondern zu reizen, und seitdem tausenderlei Leckereien erfunden worden sind, um die Gier zu erregen, ist das, was den Hungernden Nahrung war, den Gesättigten eine Last geworden.
(95,16) Inde pallor et nervorum vino madentium tremor et miserabilior ex cruditatibus quam ex fame macies; inde incerti labantium pedes et semper qualis in ipsa ebrietate titubatio; inde in totam cutem umor admissus distentusque venter, dum male adsuescit plus capere quam poterat; inde suffusio luridae bilis et decolor vultus tabesque in se putrescentium et retorridi digiti articulis obrigescentibus nervorumque sine sensu iacentium torpor aut palpitatio [corporum] sine intermissione vibrantium.
 16. Daher die Blässe und das Zittern der vom Wein geschwellten Nerven und die Magerkeit, beklagenswerter als Folge von Überladung, denn als Folge von Hunger. Daher die unsicheren Füße der Wankenden und ein beständiges Taumeln, wie bei der Trunkenheit selbst; daher das unter der ganzen Haut angesammelte Wasser und der gespannte Leib, der mit Mühe gewöhnt wurde, mehr zu fassen, als er konnte; daher die Ergießung fahlgelber Galle, das missfarbige Gesicht, das Dahinschwinden der innerlich Faulenden, die verdorrten Finger mit steifen Gelenken und die Erstarrung der gefühllos liegenden oder das Klopfen der ohne Unterlass zitternden Nerven.
(95,17) Quid capitis vertigines dicam? quid oculorum auriumque tormenta et cerebri exaestuantis verminationes et omnia, per quae exoneramur, internis ulceribus adfecta? Innumerabilia praeterea febrium genera, aliarum impetu saevientium, aliarum tenui peste repentium, aliarum cum horrore et multa membrorum quassatione venientium?
17. Wozu soll ich den Schwindel im Kopf erwähnen? Wozu die Qualen der Augen und Ohren, die Schmerzen des glühenden Gehirns und alle an inneren Geschwüren leidenden Organe der Ausleerung? Ferner die unzähligen Arten von Fieber, der einen, die mit Heftigkeit wüten, anderer, die mit leiser Pest dahinschleichen, und wieder anderer, die mit Schaudern und heftiger Erschütterung der Glieder sich einstellen?
(95,18) Quid alios referam innumerabiles morbos, supplicia luxuriae? Immunes erant ab istis malis, qui nondum se deliciis solverant, qui sibi imperabant, sibi ministrabant. Corpora opere ac vero labore durabant, aut cursu defatigati aut venatu aut tellure versanda; excipiebat illos cibus, qui nisi esurientibus placere non posset. Itaque nihil opus erat tam magna medicorum supellectile nec tot ferramentis atque puxidibus. Simplex erat ex causa simplici valetudo: multos morbos multa fericula fecerunt.
18. Wozu soll ich die übrigen unzähligen Krankheiten aufführen, (sämtlich) Strafen der Üppigkeit? Frei von diesen Übel waren diejenigen, die sich noch nicht durch Genüsse aufgelöst hatten, die sich selbst beherrschten, sich selbst dienten. Sie härteten ihren Körper durch Arbeit und wahrer Anstrengung ab, ermüdet entweder durch Laufen, oder Jagen, oder Bearbeitung der Erde. Dann erwartete sie eine Speise, die nur den Hungrigen munden konnte. Daher bedurfte es keines so großen ärztlichen Apparats, noch so vieler Stahlwerkzeuge und Büchsen. Aus einer einfachen Ursache entsprang ein einfaches Unwohlsein; die vielen Krankheiten haben (erst) die vielen Gerichte erzeugt.
(95,19) Vide, quantum rerum per unam gulam transiturarum permisceat luxuria, terrarum marisque vastatrix. Necesse est itaque inter se tam diversa dissideant et hausta male digerantur aliis alio nitentibus. Nec mirum, quod inconstans variusque ex discordi cibo morbus est, et illa ex contrariis naturae partibus in eundem conpulsa redundant. Inde tam novo aegrotamus genere, quam vivimus.
19. Siehe, wie viele Dinge, die durch einen Schlund gehen sollen, die Üppigkeit unter einander gemischt, welche Länder und mehrere verödet. Daher muss notwendig unter sich so Verschiedenes im Widerspruch zueinander stehen und, wenn es verschlungenen ist, schlecht verdaut werden, da das eine nach dieser, dass andere nach jener Richtung hin wirkt. Und es ist kein Wunder, dass aus so widerstreitender Nahrung wechselnde und verschiedenartige Krankheiten entstehen und dass jene aus entgegengesetzten Bestandteilen der Natur gewaltsam zu einer (Speise) verbundenen (Nahrungsstoffe) wieder ausgebrochen werden.
(95,20) Maximus ille medicorum et huius scientiae conditor feminis nec capillos defluere dixit nec pedes laborare: atqui et capillis destituuntur et pedibus aegrae sunt. Non mutata feminarum natura sed victa est; nam cum virorum licentiam aequaverint, corporum quoque virilium incommoda aequarunt.
20. Jener größte Arzt und Begründer dieser Wissenschaft (Hippokrates) sagte, dass den Frauen wieder die Haare ausgehen, noch dass sie am Fußgicht leiden. Und doch verlieren sieht (jetzt) ihre Haare und sind krank an den Füßen. Nicht die Natur der Frauen hat sich verändert, sondern ihre Lebensweise; denn dass sie es den Männern an Ausschweifungen gleichtun, teilen Sie auch gleiche Leiden mit den männlichen Körpern.
(95,21) Non minus pervigilant, non minus potant, et oleo et mero viros provocant; aeque invitis ingesta visceribus per os reddunt et vinum omne vomitu remetiuntur; aeque nivem rodunt, solacium stomachi aestuantis. Libidine vero ne maribus quidem cedunt: pati natae (di illas deaeque male perdant!) adeo perversum commentae genus inpudicitiae viros ineunt. Quid ergo mirandum est maximum medicorum ac naturae peritissimum in mendacio prendi, cum tot feminae podagricae calvaeque sint? Beneficium sexus sui vitiis perdiderunt et, quia feminam exuerant, damnatae sunt morbis virilibus.
21. Sie durchwachen nicht weniger Nächte, sie trinken nicht weniger und fordern im (Verbrauch von) Öl und Wein die Männer zum Wettkampf heraus; sie geben ebenso das in die widerstrebenden Eingeweide Hineingefüllte durch den Mund wieder von sich und messen allen (genossenen) Wein durch das Erbrechen nach; sie lecken ebenso an Schnee, als Linderungsmittel für den kochenden Magen. An Wolllust aber geben sie selbst den Männern nichts nach; als der leidende Teil geboren, haben sie (mögen Götter und Göttinnen sie verderben!) eine so unnatürliche Art von Unzucht ersonnen, dass sie selbst die Männer besteigen. Wie also kann man sich wundern, dass selbst der größte Arzt und der gründlichste Kenner der Natur bei einer Lüge ertappt wird, da es so viele podagristische und kahl kahlköpfige Weiber gibt? Sie haben die Begünstigung ihres Geschlechts durch ihre Laster verloren, und weil sie das Weib ausgezogen haben, sind sie zu männlichen Krankheiten verdammt.
(95,22) Antiqui medici nesciebant dare cibum saepius et vino fulcire venas cadentis, nesciebant sanguinem mittere et diutinam aegrotationem balneo sudoribusque laxare, nesciebant crurum vinculo brachiorumque latentem vim et in medio sedentem ad extrema revocare. Non erat necesse circumspicere multa auxiliorum genera, cum essent periculorum paucissima.
22. Die alten Ärzte wussten nichts davon, öfter Speise zu geben und durch Wein den sinkenden Puls zu heben, sie wussten nichts davon, Blut abzulassen und ein langes Kranksein durch Baden und Schwitzen zu erleichtern; sie wussten nichts davon, durch Binden der Beine und Arme den verborgenen und im Innern sitzenden Krankheitsstoff auf die äußeren Teile zu leiten. Es war nicht nötig, sich nach vielen Arten von Hilfsmitteln umzusehen, da es nur wenige Gefahren gab.
(95,23) Nunc vero quam longe processerunt mala valetudinis! Has usuras voluptatium pendimus ultra modum fasque concupitarum. Innumerabiles esse morbos non miraberis: cocos numera. Cessat omne studium et liberalia professi sine ulla frequentia desertis angulis praesident; in rhetorum ac philosophorum scholis solitudo est: at quam celebres culinae sunt, quanta circa nepotum focos <se> iuventus premit!
23. Jetzt aber, wie weit sind die Leiden der Gesundheit vorgeschritten? Diese Zinsen zahlen wir für die über Maß und Gebühr von uns begehrten Lüste. Dass die Krankheiten unzählige sind, darüber wirst du dich nicht wundern; zähle nur die Köche! Alle Studien feiern und die Lehrer der Freien Künste und Wissenschaften sitzen ohne alle Zuhörerschaft in verlassenen Winkel auf ihren Karthedern. In den Schulen der Rhetoren und Philosophen herrscht Öde; wie besucht dagegen sind die Garküchen, eine wie zahlreiche Jugend drängt sich um die Herde der Schwelger!
(95,24) Transeo puerorum infelicium greges, quos post transacta convivia aliae cubiculi contumeliae expectant; transeo agmina exoletorum per nationes coloresque discripta, ut eadem omnibus levitas sit, eadem primae mensura lanuginis, eadem species capillorum, ne quis, cui rectior est coma, crispulis misceatur; transeo pistorum turbam, transeo ministratorum per quos signo dato ad inferendam cenam discurritur. Di boni, quantum hominum unus venter exercet!
24. Ich übergehe die Scharen unglücklicher Knaben, auf die nach dem Ende der Gastgelage eine andere Schmach im Schlafzimmer wartet; ich übergehe die Reihen der Lustknaben, die nach Nationen und Farben abgeteilt sind, damit sich bei allen die selbe Glätte (der Haut), die gleiche Länge des ersten Flaums, die selbe Beschaffenheit des Haupthaars finde, damit nicht einer, der schlichteres Haar hat, sich unter die Krausköpfe mische. Ich übergehen den Haufen der Bäcker und Diener, die auf ein Zeichen hin durcheinander rennen, um die Speisen aufzutragen. Gute Götter! Welche Schar von Menschen setzt ein einziger Bauch in Trab!
(95,25) Quid? tu illos boletos, voluptarium venenum, nihil occulti operis iudicas facere, etiam si praesentanei non fuerunt? Quid? tu illam aestivam nivem non putas callum iocineribus obducere? Quid? illa ostrea, inertissimam carnem caeno saginatam, nihil existimas limosae gravitatis inferre? Quid? illud sociorum garum, pretiosam malorum piscium saniem, non credis urere salsa tabe praecordia? Quid? illa purulenta et quae tantum non ex ipso igne in os transferuntur iudicas sine noxa in ipsis visceribus extingui? Quam foedi itaque pestilentesque ructus sunt, quantum fastidium sui exhalantibus crapulam veterem! scias putrescere sumpta, non concoqui.
25. Wie? Meinst du, dass jene Pilze, ein wollüstiges Gift, keine geheime Wirkung haben, wenn sie auch nicht auf der Stelle schädlich wirken? Wie? Glaubst du, dass jener Sommerschnee keine Leberverhärtung herbeiführe? Wie? Bist du der Meinung, dass jene Austern, das unverdaulichste Fleisch, mit Kot gemästet, keine Schleimbeschwerden verursachen? Wie? Glaubst du nicht, dass jene Lake aus der Provinz, der kostbare Saft verdorbener Fische, durch ihre salzige Gauche die Eingeweide verbrenne? Wie? Denkst du, dass jene noch blutigen Speisen, die fast aus dem Feuer weg in den Mund gebracht werden, ohne Schaden in den Eingeweiden selbst ihre Glut verlieren? Wie abscheulich und pestartig ist daher das Ausstoßen danach! Welcher Ekel an sich selbst musst die ergreifen, die einen alten Rausch aushauchen! Du musst wissen, dass das Genossene verfault, nicht verdaut wird.
(95,26) Memini fuisse quondam in sermone nobilem patinam, in quam, quidquid apud lautos solet diem ducere, properans in damnum suum popina congesserat: veneriae spondylique et ostrea eatenus circumcisa, qua eduntur, intervenientibus distinguebantur echini totam destructique sine ullis ossibus mulli constraverant.
26. Ich erinnere mich, dass einst eine vortreffliche Schüssel der Gegenstand der Unterhaltung war, worin die zu ihrem eigenen Schaden eilfertige Garküche alles vereinigt hatte, womit (sonst) Schlemmer einen ganzen Tag hinzubringen pflegen; Venusmuscheln, Stachelmuscheln und Austern, bis auf das Essbare abgeschält, waren durch dazwischenliegende Meerigel getrennt, zusammengerollte und ausgenommene Seebarben ohne alle Gräten bildeten eine Schicht darüber.
(95,27) Piget esse iam singula: coguntur in unum sapores. In cena fit, quod fieri debebat in ventre: expecto iam, ut manducata ponantur. Quantulo autem hoc minus est, testas excerpere atque ossa et dentium opera cocum fungi? "Gravest luxuriari per singula: omnia semel et in eundem saporem versa ponantur. Quare ego ad unam rem manum porrigam? plura veniant simul, multorum ferculorum ornamenta coeant et cohaereant.
27. Schon ekelt es an, die Speisen einzeln zu essen, verschieden Schmeckendes wird zu einem Geschmack gezwungen; auf der Tafel geschieht, was im gesättigten Magen geschehen sollte; ich erwarte schon, dass bereits Gekautes aufgetragen wird. Wie wenig fehlt noch daran, wenn Schalen und Gräten beseitigt werden und der Koch das Geschäft der Zähne besorgt? Das ist lästig, in einem Gericht nach dem anderen zu schwelgen; alles soll zugleich und in einen Geschmack verwandelt aufgetragen werden. Warum soll ich nach einer Sache die Hand ausstrecken? Mehreres komme zugleich; die Zierden vieler Gänge sollen sich vereinigen und verschmelzen.
(95,28) Sciant protinus hi, qui iactationem ex istis peti et gloriam aiebant, non ostendi ista sed conscientiae dari. Pariter sint, quae disponi solent, uno iure perfusa; nihil intersit; ostrea, echini, spondyli, mulli perturbati concoctique ponantur." Non esset confusior vomentium cibus.
28. Diejenigen (aber), die sagen, es sei dabei auf Prahlerei und Ruhm abgesehen, mögen wissen, dass diese (Gerichte) nicht zur Schau gestellt, sondern dem Kenner dargeboten werden. Was (sonst) einzeln vorgesetzt zu werden pflegt, soll gleichmäßig mit einer Brühe übergossen sein, kein Unterschied soll stattfinden; Austern, Meerigel, Stachelmuscheln, Barben sollen vermengt und zusammengekocht aufgetragen werden. Ausgebrochene Speisen würden kein größeres Gemengsel bilden.
(95,29) Quomodo ista perplexa sunt, sic ex istis non singulares morbi nascuntur sed inexplicabiles, diversi, multiformes, adversus quos et medicina armare se coepit multis generibus, multis observationibus. Idem tibi de philosophia dico. Fuit aliquando simplicior inter minora peccantis et levi quoque cura remediabiles: adversus tantam morum eversionem omnia conanda sunt. Et utinam sic denique lues ista vincatur!
29. Wie (aber) jener (Gerichte) verworren sind, so entstehen aus ihnen (auch) nicht einzelne Krankheiten, sondern unentwirrbare, verschiedenartige, vielgestaltige, gegen die sich auch die Heilkunst mit vielen Arten (von Mitteln) und vielerlei Beobachtungen zu waffnen begonnen hat. Das selbe sage ich dir von der Philosophie. Sie war einst einfacher unter Menschen, die kleinere und schon mit geringerer Sorgfalt heilbare Fehler begingen; gegen eine so große Zerstörung der Sitten (aber) muss alles versucht werden. Und könnte doch wenigstens so dieser Seuche Einhalt geboten werden!
(95,30) Non privatim solum, sed publice furimus. Homicidia conpescimus et singulas caedes: quid bella et occisarum gentium gloriosum scelus? Non avaritia, non crudelitas modum novit. Et ista quamdiu furtim et a singulis fiunt, minus noxia minusque monstrosa sunt: ex senatus consultis plebisque scitis saeva exercentur et publice iubentur vetata privatim.
30. Doch nicht nur als einzelne Personen, als ganze Völker rasen wir. Totschlag und einzelne Mordtaten verhindern wir; was aber soll ich zu den Kriegen und dem ruhmreichen Verbrechen gemordeter Völker sagen? Nicht Habsucht, nicht Grausamkeit kennt ein Maß. Und solange jene (Verbrechen) verstohlen und von einzelnen begangen werden, sind sie weniger schädlich und widernatürlich; (jetzt aber) werden Grausamkeiten nach Staatsbeschlüssen und Volksverordnungen geübt, und was im Privatleben verboten ist, wird von Staats wegen geboten.
(95,31) Quae clam commissa capite luerent, tum, quia paludati fecere, laudamus. Non pudet homines, mitissimum genus, gaudere sanguine alterno et bella gerere gerendaque liberis tradere, cum inter se etiam mutis ac feris pax sit.
31. Was man, heimlich begangen, mit dem Kopf büßen müsste, das loben wir, weil es Kriegsleute taten. Die Menschen, die sanfteste Art (von Geschöpfen), schämen sich nicht, sich gegenseitig an ihrem Blut zu letzen, Kriege zu führen und diese ihren Kindern zu hinterlassen, während selbst unter vernunftlosen und wilden Tieren Frieden herrscht.
(95,32) Adversus tam potentem explicitumque late furorem operosior philosophia facta est et tantum sibi virium sumpsit, quantum iis, adversus quae parabatur, accesserat. Expeditum erat obiurgare indulgentis mero et petentis delicatiorem cibum, non erat animus ad frugalitatem magna vi reducendus, a qua paullum discesserat:
nunc manibus rapidis opus est, nunc arte magistra. (Verg.Aen.8,442).
32. Einer so mächtigen und weit verbreiteten Raserei gegenüber ist die Philosophie mühevoller geworden und hat sich so viele Kräfte gesammelt, wie die (Übel), gegen die sie aufgeboten wurde, gewonnen haben. Leicht war es, die zu schelten, die sich (einmal) im Wein etwas übernahmen und eine feinere Speise begehrten: die Seele brauchte nicht mit großer Gewalt zur Mäßigkeit zurückgeführt zu werden, von der sie (nur) wenig abgewichen war.
Jetzt ist vonnöten die hurtige Hand, jetzt Kunst und Erfahrung ( Verg.Aen.8,442).
(95,33) Voluptas ex omni quaeritur. Nullum intra se manet vitium: in avaritiam luxuria praeceps est. Honesti oblivio invasit; nihil turpest, cuius placet pretium. Homo, sacra res homini, iam per lusum ac iocum occiditur et, quem erudiri ad inferenda accipiendaque vulnera nefas erat, is iam nudus inermisque producitur satisque spectaculi ex homine mors est.
33. Aus allem sucht man Genuss (zu ziehen); kein Laster bleibt in seinen Grenzen. Die Üppigkeit stürzt sich in Habsucht; Vergessenheit der Tugend ist eingerissen; nichts ist schimpflich, dessen Preis gefällt. Der Mensch, ein Geschöpfen, das Mitmenschen heilig sein sollte, wird jetzt zu Spiel und Kurzweil gemordet, und derjenige, den schon zum Beibringen und Empfangen von Wunden abzurichten ein Frevel war, wird jetzt nackt und wehrlos vorgeführt, und ein Schauspiel genug gewährt ein Mensch durch seinen Tod.
(95,34) In hac ergo morum perversitate desideratur solito vehementius aliquid, quod mala inveterata discutiat: decretis agendum est, ut revellatur penitus falsorum recepta persuasio. His si adiunxerimus praecepta, consolationes, adhortationes, poterunt valere: per se inefficaces sunt.
34. Bei dieser Verkehrtheit der Sitten ist also etwas Kräftigeres als das Gewöhnliche nötig, um die eingewurzelte Übel zu vertreiben; durch die Lehrsätze muss man dahin wirken, dass die (allgemein) herrschende Annahme von irrigen Meinungen gründlich ausgerottet werde. Wenn wir Vorschriften, Tröstungen und Ermahnungen mit ihnen verbinden, so werden sie zu wirken im Stande sein; für sich allein sind sie unwirksam.
(95,35) Si volumus habere obligatos et malis, quibus iam tenentur, avellere, discant, quid malum, quid bonum sit, sciant omnia praeter virtutem mutare nomen, modo mala fieri, modo bona. Quemadmodum primum militiae vinculum est religio et signorum amor et deserendi nefas, tunc deinde facile cetera exiguntur mandanturque iusiurandum adactis, ita in iis, quos velis ad beatam vitam perducere, prima fundamenta iacienda sunt et insinuanda virtus. Huius quadam superstitione teneantur, hanc ament; cum hac vivere velint, sine hac nolint.
35. Wollen wir (andere) gebunden halten und von den Übeln, in denen sie jetzt befangen sind, losreißen, so müssen sie lernen, was schlecht und was gut ist, sie müssen erfahren, dass alles außer der Tugend den Namen wechselt und bald ein Übel, bald ein Gut wird. Wie das erste Band des Kriegsdienstes die Religion (der Fahneneid) ist und die Liebe zu den Fahnen und der Frevel, sie zu verlassen, und wie dann von den in Eidespflicht Genommenen das übrige leicht gefordert und ihnen leicht befohlen wird, so ist bei denen, die du zu einem glückseligen Leben führen willst, der erste Grund zu legen und die Tugend ihnen einzuflößen. Sie müssen von einer Art heiliger Scheu vor dieser erfüllt sein; diese müssen sie lieben, mit dieser müssen sie zu leben wünschen, ohne sie nicht (leben) mögen.
(95,36) "Quid ergo? non quidam sine institutione subtili evaserunt probi magnosque profectus adsecuti sunt, dum nudis tantum praeceptis obsequuntur?" Fateor, sed felix illis ingenium fuit et salutaria in transitu rapuit. Nam ut dii immortales nullam didicere virtutem, cum omni editi et pars naturae eorum est bonos esse, ita quidam ex hominibus egregiam sortiti indolem in ea, quae tradi solent, perveniunt sine longo magisterio et honesta conplexi sunt, cum primum audiere; unde ista tam rapacia virtutis ingenia vel ex se fertilia. At illis aut hebetibus et obtusis aut mala consuetudine obsessis diu robigo animorum effricanda est.
36. Wie aber? Sind nicht manche (auch) ohne sorgfältigen Unterricht rechtschaffen geworden und haben große Fortschritte gemacht, indem sie bloß einfachen Vorschriften folgten? Ich gebe es zu; allein sie hatten eine glückliche Naturanlage, die das Heilsame im Vorübergehen aufgriff. Denn wie die unsterblichen Götter keine Tugend erlernt haben, (sondern) mit jeder geboren sind und gut zu sein ein Teil ihrer Natur ist, so gelangen einige unter den Menschen, denen eine vortreffliche Naturanlage zu Teil geworden ist, zu dem, was man mitzuteilen pflegt, ohne langen Unterricht, und umfassen das sittlich Gute, sobald sie es gehört haben; und daher (rühren) jene Seelen, die sich der Tugend so leicht bemächtigen, oder sie aus sich selbst hervorbringen.
(95,37) Ceterum, ut illos in bonum pronos citius educit ad summa, et hos inbecilliores adiuvabit malisque opinionibus extrahet, qui illis philosophiae placita tradiderit; quae quam sint necessaria sic licet videas. Quaedam insident nobis, quae nos ad alia pigros, ad alia temerarios faciunt; nec haec audacia reprimi potest nec illa inertia suscitari, nisi causae eorum eximuntur: falsa admiratio et falsa formido. Haec nos quamdiu possident, dicas licet "hoc patri praestare debes, hoc liberis, hoc amicis, hoc hospitibus": temptantem avaritia retinebit. Sciet pro patria pugnandum esse, dissuadebit timor; sciet pro amicis desudandum esse ad extremum usque sudorem, sed deliciae vetabunt; sciet in uxore gravissimum esse genus iniuriae paelicem, sed illum libido in contraria inpinget.
37. Aber jenen entweder Stumpfsinnigen und Blödsichtigen, oder von übler Gewohnheit Befangenen muss lange der Rost von der Seele gerieben werden. Wie übrigens derjenige, der die Lehrsätze der Philosophie mitteilt, die zum Guten Geneigten schneller zum Höchsten hinleitet, so wird er auch diese Schwächeren fördern und von üblen Meinungen befreien; und so kannst du ersehen, wie notwendig diese (Lehrsätze) sind. Es liegen gewisse (Eigenschaften) in uns, die uns zu einigem träge, zu anderem verwegen machen; und es lässt sich weder diese Verwegenheit unterdrücken, noch jene Trägheit aufrütteln, wenn nicht ihre Ursachen entfernt werden, falsche Bewunderung und falsche Furcht. Solange uns diese besitzen, magst du immerhin sagen: dies musst du dem Vater leisten, dies den Kindern, dies den Freunden, dies den Gastfreunden. Den, der es versucht, wird der Geiz zurückhalten. Er wird wissen, dass man fürs Vaterland kämpfen muss: aber die Furcht wird es ihm widerraten. Er wird wissen, dass man für Freunde den letzten Tropfen Schweiß vergießen muss: aber die Weichlichkeit wird es ihm verbieten. Er wird wissen, dass ein Kebsweib (zu halten) die schwerste Art von Unrecht gegen die Gattin ist: aber die Wollust treibt ihn zum Gegenteil.
(95,38) Nihil ergo proderit dare praecepta, nisi prius amoveris obstatura praeceptis, non magis quam proderit arma in conspectu posuisse propiusque admovisse, nisi usurae manus expediuntur. Ut ad praecepta, quae damus, possit animus ire, solvendus est.
38. Es wird also nichts fruchten, Vorschriften zu geben, wenn du nicht vorher das den Vorschriften im Wege Stehende entfernt hast, ebenso wenig, wie es nützen wird, Waffen vor jemandes Augen hinzulegen und sie ihm näher zu rücken, wenn nicht seine Hände zu ihrem Gebrauch freigemacht werden. Damit die Seele zu den Vorschriften, die wir geben, hingelangen kann, muss sie losgemacht werden.
(95,39) Putemus aliquem facere, quod oportet: non faciet adsidue, non faciet aequaliter; nesciet enim, quare faciat. Aliqua vel casu vel exercitatione exibunt recta, sed non erit in manu regula, ad quam exigantur, cui credat recta esse, quae fecit. Non promittet se talem in perpetuum, qui bonus casu est.
39. Nehmen wir an, es tut einer, was es soll: er wird es doch nicht anhaltend, nicht gleichmäßig tun; denn er wird nicht wissen, warum er es tut. Einiges wird entweder durch Zufall oder Übung recht vonstatten gehen, aber die Richtschnur wird nicht zur Hand sein, nach der es erprobt wird und der man glauben kann, dass das recht sei, was man getan hat. Wer (nur) durch Zufall gut ist, lässt nicht erwarten, dass er es für immer ist.
(95,40) Deinde praestabunt tibi fortasse praecepta, ut, quod oportet, faciat, non praestabunt, ut, quemadmodum oportet; si hoc non praestant, ad virtutem non perducunt. Faciet, quod oportet, monitus, concedo; sed id parum est, quoniam quidem non in facto laus est, sed in eo, quemadmodum fiat.
40. Ferner werden dir die Vorschriften vielleicht den Dienst leisten, dass du tust, was du sollst, aber nicht (dass du es tust), wie du sollst; und wenn sie das nicht leisten, so führen sie (auch) nicht zur Tugend. Wer ermahnt wird, wird tun, was er soll: ich gebe es zu; aber das ist zu wenig, weil das Lob nicht auf der Handlung (selbst) beruht, sondern darauf, wie etwas getan wird.
(95,41) Quid est cena sumptuosa flagitiosius et equestrem censum consumente? quid tam dignum censoria nota, si quis, ut isti ganeones loquuntur, sibi hoc et genio suo praestet? et deciens tamen sestertio aditiales cenae frugalissimis viris constiterunt. Eadem res, si gulae datur, turpis est, si honori, reprensionem effugit; non enim luxuria sed inpensa sollemnis est.
41. Was ist schmählicher, als eine verschwenderische, das Vermögen eines Ritters aufzehrende Mahlzeit? Was verdient so sehr eine Rüge des Zensors, als wenn einer, wie jene Schlemmer sprechen, sich und seinem Genius ein solches Opfer bringt? Und doch haben so oft selbst die mäßigsten Männer ihre Antrittsschmäuse hunderttausend Sesterzen gekostet. Die selbe Ausgabe ist, wenn sie dem Gaumen geopfert wird, schändlich, entgeht (aber) dem Tadel, wenn sie der Ehre wegen gemacht wird. Denn (dann) ist sie keine Verschwendung, sondern ein hergebrachter Festaufwand.
(95,42) Mullum ingentis formae - quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito? quattuor pondo et selibram fuisse aiebant - Tiberius Caesar missum sibi, cum in macellum deferri et venire iussisset, "amici", inquit, "omnia me fallunt, nisi istum mullum aut Apicius emerit aut P. Octavius." Ultra spem illi coniectura processit: liciti sunt, vicit Octavius et ingentem consecutus est inter suos gloriam, cum quinque sestertiis emisset piscem, quem Caesar vendiderat, ne Apicius quidem emerat. Numerare tantum Octavio fuit turpe, non illi, qui emerat, ut Tiberio mitteret, quamquam illum quoque reprenderim: admiratus est rem, qua putavit Caesarem dignum.
42. Eine Seebarbe von ungeheurer Größe (doch warum füge ich nicht auch das Gewicht bei und reize dadurch das Gelüst manchen Gaumens? Sie soll vier und ein halbes Pfund gewogen haben) ließ der Kaiser Tiberius, dem sie übersandt worden war, auf den Markt bringen und verkaufen, indem er sagte: "Freunde, es trügt mich alles, wenn nicht Apicius oder Publius Octavius diese Barbe kauft." Über Erwarten traf seine Vermutung ein: beide boten darauf; Octavius siegte und trug unter den Leuten seinesgleichen einen hohen Ruhm davon, dass er für 5000 Sesterzen einen Fisch gekauft hätte, den der Kaiser verkauft und nicht einmal Apicius gekauft hatte. So viel zu bezahlen war schimpflich für den Octavius, nicht aber für jenen, der (den Fisch) gekauft hatte, um ihn dem Tiberius zu übersenden, obgleich ich auch ihn tadeln möchte; denn er bewunderte den Gegenstand, dessen er (nur) den Kaiser für würdig hielt.
(95,43) Amico aliquis aegro adsidet: probamus. At hoc hereditatis causa facit: vultur est, cadaver expectat. Eadem aut turpia sunt aut honesta: refert, quare aut quemadmodum fiant. Omnia autem honeste fient, si honesto nos addixerimus idque unum in rebus humanis bonum iudicarimus, quaeque ex eo sunt; cetera in diem bona sunt.
43. Es sitzt einer am Lager eines kranken Freundes; wir billigen es. Aber er tut es um der Erbschaft willen: (dann) ist er ein Geier und wartet auf einen Leichnam. Dieselbe Sache ist bald schimpflich, bald ehrenvoll; es kommt darauf an, weshalb und wie sie geschieht. Alles aber wird auf ehrbare Weise geschehen, wenn wir uns selbst dem Ehrbaren geweiht haben und nur dies allein und, was aus ihm hervorgeht, unter allen menschlichen Dingen für gut halten. Das übrige ist (nur) für den Augenblick gut.
(95,44) Ergo infigi debet persuasio ad totam pertinens vitam: hoc est, quod decretum voco. Qualis haec persuasio fuerit, talia erunt, quae agentur, quae cogitabuntur; qualia autem haec fuerint, talis vita erit. In particulas suasisse totum ordinanti parum est.
44. Daher muss (der Seele) eine Überzeugung eingeprägt werden, die sich auf das ganze Leben erstreckt: das ist es, was ich einen Lehrsatz nenne. Wie diese Überzeugung beschaffen sein wird, so werden auch die Handlungen und Gedanken beschaffen sein; wie aber diese beschaffen sind so wird es (auch) das Leben sein. Für kleine Teile (einzelne Fälle) Rat erteilt zu haben, ist dem zu wenig, der das Ganze ordnet.
(95,45) M. Brutus in eo libro quem περὶ καθήκοντος inscripsit dat multa praecepta et parentibus et liberis et fratribus: haec nemo faciet, quemadmodum debet, nisi habuerit, quo referat. Proponamus oportet finem summi boni, ad quem nitamur, ad quem omne factum nostrum dictumque respiciat; veluti navigantibus ad aliquod sidus derigendus est cursus.
45. Marcus Brutus gibt in dem Buch, das er "Über die Pflicht" betitelte, den Eltern, Kindern und Geschwistern viele Vorschriften; niemand (aber) wird sie erfüllen, wie er soll, wenn er nicht etwas hat, worauf er sie zurückführt. Wir müssen uns das Ziel des höchsten Gutes vorsetzen, dem wir nachstreben sollen, das jede unserer Handlungen, jedes unserer Worte berücksichtigen soll, gleich wie die Schiffenden ihren Kurs nach irgendeinem Gestirn zu richten haben.
(95,46) Vita sine proposito vaga est; quod si utique proponendum est, incipiunt necessaria esse decreta. Illud, ut puto, concedes, nihil esse turpius dubio et incerto ac timide pedem referente. Hoc in omnibus rebus accidet nobis, nisi eximuntur, quae reprendunt animos et detinent et ire conarique totos vetant.
46. Ein Leben ohne vorgestecktes Ziel ist unstet. Wenn man sich nun ein solches allerdings vorstecken muss, so fangen auch die Lehrsätze notwendig zu werden an. Das, glaube ich, wirst du mir zugeben, dass nichts schimpflicher ist, als jene den Fuß zurückziehende Bedenklichkeit, Ungewissheit und Ängstlichkeit. Diese (aber) wird bei allen Dingen an uns herantreten, wenn nicht hinweggenommen wird, was den Geist zurückzieht und festhält und uns verbietet, unsere Unternehmungen mit ganzer Seele durchzuführen.
(95,47) Quomodo sint dii colendi, solet praecipi. Accendere aliquem lucernas sabbatis prohibeamus, quoniam nec lumine dii egent et ne homines quidem delectantur fuligine. Vetemus salutationibus matutinis fungi et foribus adsidere templorum: humana ambitio istis officiis capitur, deum colit, qui novit. Vetemus lintea et strigiles Iovi ferre et speculum tenere Iunoni: non quaerit ministros deus. Quidni? ipse humano generi ministrat, ubique et omnibus praesto est.
47. Es pflegen Vorschriften erteilt zu werden, wie die Götter zu verehren sind. Lasst uns einen abhalten, an Sabbattagen Leuchten anzuzünden, weil die Götter kein Licht benötigen und selbst die Menschen am Lampenruß keine Freude haben. Lass uns verbieten, Morgenvisiten abzustatten und an den Tempel der Götter zu sitzen: menschlicher Ehrgeiz wird durch solche Pflichtleistungen bestochen, Gott verehrt, wer ihn kennt. Lass uns verbieten, dem Iupiter Leinentücher und Badestriegel dazubringen und der Iuno den Spiegel zu halten: die Gottheit sucht keine Diener; warum nicht? Sie dient selbst dem Menschengeschlecht, sie ist überall und allen zur Hilfe bereit.
(95,48) Audiat licet, quem modum servare in sacrificiis debeat, quam procul resilire a molestis superstitionibus, numquam satis profectum erit, nisi, qualem debet, deum mente conceperit, omnia habentem, omnia tribuentem, beneficum gratis.
48. Es mag einer hören, welches Maß er bei den Opfern zu beobachten hat, wie weit er vor lästigem Dienst und Aberglauben zurückweichen soll: damit wird niemals genug erreicht sein, wenn er nicht die Gottheit so, wie er sie (sich denken) muss, im Geist aufgefasst hat, als die alles besitzende, alles zuteilend, wohltätig umsonst.
(95,49) Quae causa est dis bene faciendi? natura. Errat, si quis illos putat nocere nolle: non possunt. Nec accipere iniuriam queunt nec facere; laedere etenim laedique coniunctum est. Summa illa ac pulcherrima omnium natura, quos periculo exemit, ne periculosos quidem fecit.
49. Was ist für die Götter der Grund wohl zu tun? Ihre Natur. Es ist ein Irrtum, wenn jemand glaubt, dass sie nicht schaden wollen; sie können nicht; sie können weder Unrecht erleiden, noch zufügen. Denn verletzen und verletzt werden sind (innig) verbunden. Die Natur, das Größte und Schönste von allem, hat diejenigen, die sie der Gefahr entrückt hat, auch selbst ungefährlich gemacht.
(95,50) Primus est deorum cultus deos credere; deinde reddere illis maiestatem suam, reddere bonitatem, sine qua nulla maiestas est; scire illos esse, qui praesident mundo, qui universa vi sua temperant, qui humani generis tutelam gerunt interdum incuriosi singulorum. Hi nec dant malum nec habent; ceterum castigant quosdam et coercent et inrogant poenas et aliquando specie boni puniunt. Vis deos propitiare? bonus esto. Satis illos coluit, quisquis imitatus est.
50. Die erste Verehrung der Götter ist, an Götter zu glauben; sodann ihre Majestät, ihre Güte, ohne die es keine Majestät gibt, anzuerkennen; zu wissen, dass sie es sind, die der Welt vorstehen, alles durch ihre Macht regieren und die Obhut über das Menschengeschlecht führen, zuweilen sich um einzelnes kümmernd. Sie geben weder ein Übel, noch haben sie ein solches; doch züchtigen sie manche, halten sie in Schranken, legen Strafen auf und strafen zuweilen durch ein scheinbares Gut. Du willst dir die Götter geneigter machen? Sei gut; hinlänglich verehrt sie, wer sie nachahmt.
(95,51) Ecce altera quaestio, quomodo hominibus sit utendum. Quid agimus? quae damus praecepta? Ut parcamus sanguini humano? quantulum est, ei non nocere, cui debeas prodesse! Magna scilicet laus est, si homo mansuetus homini est. Praecipiemus, ut naufrago manum porrigat, erranti viam monstret, cum esuriente panem suum dividat? Quare omnia, quae praestanda ac vitanda sunt, dicam? cum possim breviter hanc illi formulam humani offici tradere: omne hoc, quod vides, quo divina atque humana conclusa sunt, unum est; membra sumus corporis magni.
51. Nun die andere Frage: wie mit Menschen umzugehen ist. Was verlangen wir? Welche Vorschriften geben wir? Dass wir Menschenblut schonen sollen? Wie wenig ist es, dem nicht zu schaden, dem man nützen soll! Ein großes Lob freilich ist es, wenn ein Mensch dem anderen gewogen ist! Werden wir vorschreiben, er solle dem Schiffbrüchigen die Hand reichen, dem Irrenden den Weg zeigen, mit dem Hungrigen sein Brot teilen? Warum werde ich ihm alles sagen, was zu tun und zu unterlassen ist? während ich ihm kurz diese Formel für sein pflichtmäßiges Verhalten gegen Menschen geben kann: dies alles, was du siehst, worin Göttliches und Menschliches inbegriffen ist, ist eines: wir sind Glieder eines großen Körpers.
(95,52) Natura nos cognatos edidit, cum ex isdem et in eadem gigneret; haec nobis amorem indidit, mutuum et sociabiles fecit. Illa aequum iustumque composuit; ex illius constitutione miserius est nocere quam laedi; ex illius imperio paratae sint iuvandis manus.
52. Die Natur hat uns als Verwandte erschaffen, da Sie uns aus demselben Stoff und demselben Zweck hervorbrachte. Sie hat uns gegenseitige Liebe eingepflanzt und uns gesellig gemacht; sie hat Billigkeit und Gerechtigkeit gegründet; nach ihrer Einrichtung ist es unheilvoller zu schaden, als sich verletzen zu lassen; nach ihren Befehl sollen die Hände für die Hilfsbedürftigen bereit sein.
(95,53) Ille versus et in pectore et in ore sit:
homo sum, humani nihil a me alienum puto.
(Ter.Haut.77).
Habeamus: in commune nati sumus. Societas nostra lapidum forniationi simillima est, quae, casura nisi in vicem obstarent, hoc ipso sustinetur.
53. Jener Vers soll in unserem Herzen und Munde leben:
Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches acht' ich mir fremd.
(Ter.Haut.77).
Halten wir (die Überzeugung) fest: wir sind zur Gemeinschaft geboren. Unsere gesellschaftliche Verbindung ist einem Steingewölbe sehr ähnlich, das einstürzen würde, wenn (die Steine) sich nicht wechselseitig entgegen stünden; eben dadurch wird es gehalten.
(95,54) Post deos hominesque dispiciamus, quomodo rebus sit utendum. In supervacuum praecepta iactabimus, nisi illud praecesserit, qualem de quacumque re habere debeamus opinionem, de paupertate, de divitiis, de gloria, de ignominia, de patria, de exilio. Aestimemus singula fama remota et quaeramus, quid sint, non quid vocentur.
54. Nach den Göttern und Menschen wollen wir betrachten, wie mit den Dingen umzugehen ist. Vergebens stellen wir Vorschriften auf, wenn nicht (die Lehre) vorausgegangen ist, welche Ansicht wir über eine jede Sache haben sollen, über die Armut, über den Reichtum, über den Ruhm, über die Schande, über das Vaterland, über die Verbannung. Lass uns das einzelne ohne Rücksicht auf den Ruf schätzen, und forschen, was die Dinge sind, nicht wie sie heißen!
(95,55) Ad virtutes transeamus. Praecipiet aliquis, ut prudentiam magni aestimemus, ut fortitudinem conplectamur, iustitiam, si fieri potest, propius etiam quam ceteras nobis adplicemus; sed nil aget si ignoramus, quid sit virtus, una sit an plures, separatae an innexae, an, qui unam habet, et ceteras habeat, quo inter se differant.
55. Gehen wir zu den Tugenden über! Es wird uns einer vorschreiben, dass wir die Klugheit hochschätzen, die Tapferkeit pflegen, <die Mäßigkeit lieben> und die Gerechtigkeit uns, wo möglich, noch mehr befreunden, als die übrigen (Tugenden). Aber wir werden nichts erreichen, wenn wir nicht wissen, was die Tugend ist, ob es nur eine oder mehrere gibt, ob sie getrennt oder untereinander verknüpft sind, ob derjenige, der eine besitzt, auch die übrigen besitzt, und wodurch sie sich voneinander unterscheiden.
(95,56) Non est necesse fabro de fabrica quaerere, quod eius initium, quis usus sit, non magis quam pantomimo de arte saltandi: omnes istae artes se sciunt, nihil deest; non enim ad totam pertinent vitam. Virtus et aliorum scientia est et sui; discendum de ipsa est, ut ipsa discatur.
56. Der Handwerker braucht nicht hinsichtlich seines Handwerks Untersuchungen anzustellen, was sein Ursprung und was sein Zweck sei, ebenso wenig als der Ballettänzer über die Kunst des Tanzens. Alle jene Künste kennen (nur) sich selbst, es fehlt (ihnen) nichts; denn sie beziehen sich nicht auf das ganze Leben. Die Tugend (aber) ist sowohl eine Kenntnis von anderem, als von sich selbst. Man muss über sie selbst belehrt werden, um sie selbst zu lernen.
(95,57) Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas; ab hac enim est actio. Rursus voluntas non erit recta, nisi habitus animi rectus fuerit; ab hoc enim est voluntas. Habitus porro animi non erit in optimo, nisi totius vitae leges perceperit et, quid de quoque iudicandum sit, exegerit, nisi res ad verum redegerit. Non contingit tranquillitas nisi inmutabile certumque iudicium adeptis: ceteri decidunt subinde et reponuntur et inter missa adpetitaque alternis fluctuantur.
57. Eine Handlung wird nicht recht sein, wenn der Wille nicht der rechte ist; denn aus ihm entspringt die Handlung. Wiederum wird der Wille nicht der rechte sein, wenn nicht die Stimmung der Seele die richtige ist; denn aus ihr entspringt der Wille. Mit der Stimmung der Seele ferner wird es nicht zum besten stehen, wenn sie nicht die Gesetze des ganzen Lebens erfasst und untersucht hat, was über jede Sache zu urteilen sei, wenn sie nicht die Dinge auf ihren wahren (Wert) zurückgeführt hat. Nur denen wird Ruhe zuteil, die ein unwandelbares und sicheres Urteil erlangt haben; die übrigen fallen wiederholt und werden wieder aufgerichtet und schwanken zwischen Aufgegebenem und Begehrtem abwechselnd hin und her.
(95,58) Causa his quae iactationis est? quod nihil liquet incertissimo regimine utentibus, fama. Si vis eadem semper velle, vera oportet velis. Ad verum sine decretis non pervenitur: continent vitam. Bona et mala, honesta et turpia, iusta et iniusta, pia et impia, virtutes ususque virtutum, rerum commodarum possessio, existimatio ac dignitas, valetudo, vires, forma, sagacitas sensuum - haec omnia aestimatorem desiderant. Scire liceat, quanti quidque in censum deferendum sit.
58. Die Ursache dieses beständigen Schwankens ist, dass denen, die sich der unsichersten Führerin, der (öffentlichen) Meinung, überlassen, nichts klar ist. Willst du immer das selbe wollen, so musst du das Wahre wollen. Zu dem Wahren (aber) gelangt man nicht ohne die Lehrsätze: sie enthalten das Leben. Gutes und Übles, Ehrbares und Schändliches, Gerechtes und Ungerechtes, Gottesfürchtiges und Gottloses, Tugenden und Übung der Tugenden, Besitz von Annehmlichkeiten (des Lebens), Ansehen und Würde, Gesundheit, Stärke, Schönheit, Schärfe der Sinne, das alles verlangt einen Beurteiler. Es muss erlaubt sein zu wissen, wie hoch ein jedes abzuschätzen ist.
(95,59) Falleris enim et pluris quaedam, quam sunt, putas, adeoque falleris, ut, quae maxima inter nos habentur - divitiae, gratia, potentia - sestertio nummo aestimanda sint. Hoc nescies, nisi constitutionem ipsam, qua ista inter se aestimantur, inspexeris. Quemadmodum folia per se virere non possunt, ramum desiderant, cui inhaereant, ex quo trahant sucum, sic ista praecepta, si sola sunt, marcent; infigi volunt sectae.
59. Denn du täuschst dich und hältst manches für mehr wert, als es ist: Ja du täuschst dich so sehr, dass das, was bei uns für das Höchste gilt, Reichtum, Gunst und Macht, keinen Heller wert zu achten ist. Das (aber) wirst du nicht erkennen, wenn du nicht das Gesetz selbst, nach dem jene Dinge untereinander abgeschätzt werden, durchschaut hast. Gleich wie Blätter für sich allein nicht grünen können, sondern einen Zweig verlangen, an dem sie hängen, aus dem sie den Saft ziehen können: ebenso verwelken jene Vorschriften, wenn sie allein sind; sie wollen auf die Lehre gepfropft sein.
(95,60) Praeterea non intellegunt hi, qui decreta tollun,t eo ipso confirmari illa, quo tolluntur. Quid enim dicunt? praeceptis vitam satis explicari, supervacua esse decreta sapientiae [id est dogmata]. Atqui hoc ipsum, quod dicunt, decretum est tam mehercules, quam si nunc ego dicerem recedendum a praeceptis velut supervacuis, utendum esse decretis, in haec sola studium conferendum; hoc ipso, quo negarem curanda esse praecepta, praeciperem.
60. Überdies sehen diejenigen, die die Lehrsätze aufgeben, nicht ein, dass diese eben dadurch Bestätigung erhalten, wodurch sie aufgehoben werden. Denn was sagen Sie? Dass durch Vorschriften das Leben hinlänglich geordnet werde, dass die Lehrsätze der Weisheit [das heißt die Dogmen] überflüssig seien. Und doch ist das, was sie hier sagen, so gewiss selbst ein Lehrsatz, als wenn ich jetzt sagte, man müsse von den Vorschriften als etwas Überflüssigem absehen, man müsse sich der Lehrsätze bedienen, auf sie allein sein Augenmerk richten. Eben hierdurch, wodurch ich leugnen wollte, dass man sich um Vorschriften kümmern dürfe, würde ich eine Vorschrift geben.
(95,61) Quaedam admonitionem in philosophia desiderant, quaedam probationem et quidem multam, quia involuta sunt vixque summa diligentia ac summa subtilitate aperiuntur. Si probationes necessariae sunt, necessaria sunt et decreta, quae veritatem argumentis colligunt. Quaedam aperta sunt, quaedam obscura: aperta, quae sensu conprehenduntur, quae memoria; obscura, quae extra haec sunt. Ratio autem non impletur manifestis: maior eius pars pulchriorque in occultis est. Occulta probationem exigunt, probatio non sine decretis est; necessaria ergo decreta sunt.
61. Einiges in der Philosophie verlangt Ermahnung, einiges Beweisführung, und zwar sehr vieles, weil es verwickelt ist und kaum durch die größte Sorgfalt und größte Gründlichkeit klargemacht werden kann. Wenn (aber) eine Beweisführung nötig ist, so sind auch Lehrsätze nötig, die die Wahrheit in Beweise zusammenfassen. Einiges ist klar, einiges dunkel. Klar ist, was mit dem Sinn und Gedächtnis aufgefasst wird, dunkel, was außerhalb dieses Gebietes liegt. Die Vernunft aber begnügt sich nicht mit dem, was augenfällig ist; ihr größerer und schönerer Teil hat es mit dem Verborgenen zu tun. Das Verborgene bedarf der Beweise und Beweise sind nicht (denkbar) ohne Lehrsätze: folglich sind Lehrsätze nötig.
(95,62) Quae res communem sensum facit, eadem perfectum, certa rerum persuasio; sine qua si omnia in animo natant, necessaria sunt decreta, quae dant animis inflexibile iudicium.
62. Was eine Ansicht zu einer allgemeinen macht, macht sie auch zu einer vollkommenen, (nämlich) eine sichere Überzeugung; wenn aber ohne sie alles (gleichsam) in der Seele schwimmt, so sind Lehrsätze nötig, die der Seele ein unveränderliches Urteil verleihen.
(95,63)Denique cum monemus aliquem, ut amicum eodem habeat loco, quo se, ut ex inimico cogitet fieri posse amicum, in illo amorem incitet, in hoc odium moderetur, adicimus: "iustum est, honestum". Iustum autem honestumque decretorum nostrorum continet ratio; ergo haec necessaria est, sine qua nec illa sunt.
63. Wenn wir endlich einen ermahnen, dass er einen Freund sich selbst gleich achte, dass er bedenke, aus einem Feind könne ein Freund werden, dass er in jenem die Liebe entfache, in diesem den Hass beschwichtige; so fügen wir hinzu: das ist gerecht und ehrbar. Das Gerechte und Ehrbare aber enthält das System unsere Lehrsätze; folglich ist dasjenige nötig, ohne das auch jenes nicht ist.
(95,64) Sed utrumque iungamus; namque et sine radice inutiles rami sunt et ipsae radices iis, quae genuere, adiuvantur. Quantum utilitatis manus habeant, nescire nulli licet, aperte iuvant: cor illud, quo manus vivunt, ex quo impetum sumunt, quo moventur, latet. Idem dicere de praeceptis possum: aperta sunt, decreta vero sapientiae in abdito. Sicut sanctiora sacrorum tantum initiati sciunt, ita in philosophia arcana illa admissis receptisque in sacra ostenduntur; at praecepta et alia eiusmodi profanis quoque nota sunt.
64. Aber wir wollen beides verbinden; denn auch die Zweige sind unnütz ohne Wurzel und die Wurzeln selbst werden durch das gefördert, was sie erzeugt haben. Welchen großen Nutzen die Hände gewähren, muss jedermann wissen; ihre Hilfe ist offenkundig; das Herz (dagegen), wodurch die Hände leben, woher sie ihre Kraft nehmen, wodurch sie in Bewegung gesetzt werden, ist verborgen. Das selbe kann ich von den Vorschriften sagen; sie liegen offen da; die Lehrsätze der Weisheit aber liegen im Verborgenen. Wie das Heiligere der Götterverehrung nur die Eingeweihten wissen, so werden in der Philosophie jene Geheimnisse (nur) denen offenbart, die in die heilige Gemeinschaft zugelassen und aufgenommen sind; die Vorschriften aber und anderes dergleichen ist auch den Ungeweihten bekannt.
(95,65) Posidonius non tantum praeceptionem (nihil enim nos hoc verbo uti prohibet) sed etiam suasionem et consolationem et exhortationem necessariam iudicat; his adicit causarum inquisitionem, aetiologian, quam, quare nos dicere non audeamus, cum grammatici, custodes Latini sermonis, suo iure ita appellent, non video. Ait utilem futuram et descriptionem cuiusque virtutis; hanc Posidonius "ethologian" vocat, quidam "characterismon" appellant, signa cuiusque virtutis ac vitii et notas reddentem, quibus inter se similia discriminentur.
65. Poseidonios erklärt nicht bloß das Vorschriftgeben (denn nichts hindert uns, dieses Wort zu gebrauchen), sondern auch das Raterteilen, das Trösten und Ermahnen für notwendig. Hierzu fügt er noch die Untersuchung der Gründe (oder die der Aetiologie, denn ich sehe nicht ein, warum wir nicht wagen sollten, sie so zu nennen, da die Grammatiker, die Wächter der lateinischen Sprache, sie mit Recht so benennen). Er sagte, dass auch die Schilderung jeder einzelnen Tugend nützlich sein werde; diese nennt Poseidonios die Ethologie, einige (aber) nennen sie die Charakteristik, da sie die Kennzeichen und Merkmale einer jeden Tugend und eines jeden Lasters angibt, wodurch die, die einander ähnlich sind, unterschieden werden.
(95,66) Haec res eandem vim habet quam praecipere; nam qui praecipit, dicit "illa facies, si voles temperans esse", qui describit, ait "temperans est, qui illa facit, qui illis abstinet". Quaeris quid intersit? alter praecepta virtutis dat, alter exemplar. Descriptiones has et, ut publicanorum utar verbo, iconismos ex usu esse confiteor: proponamus laudanda, invenietur imitator.
66. Dieses Verfahren hat dieselbe Kraft, wie das Vorschriftgeben; denn wer Vorschriften gibt, sagt: dies musst du tun, wenn du mäßig sein willst. Wer Schilderungen gibt, sagt: Mäßig ist, wer dieses tut und sich jener Dinge enthält. Du fragst, was der Unterschied sei? Der eine gibt Vorschriften, der andere ein Beispiel der Tugend. Dass diese Schilderungen und (um mich eines Ausdrucks der Staatspächter zu bedienen) die Ikonismen von Nutzen sind, räume ich ein. Stellen wir doch das Lobenswerte vor Augen: ein Nachahmer wird sich finden!
(95,67) Putas utile dari tibi argumenta, per quae intellegas nobilem equum, ne fallaris empturus, ne operam perdas in ignavo? Quanto hoc utilius est excellentis animi notas nosse, quas ex alio in se transferre permittitur.
67. Du hältst es für nützlich, dass dir Merkmale gegeben werden, woran du ein edles Pferd erkennst, damit du bei einem Kauf nicht getäuscht wirst und die Mühe nicht an einem untauglichen verschwendest. Wie viel nützlicher (aber) ist es, die Merkmale einer trefflichen Seele zu kennen, die ein anderer auf sich übertragen darf?
(95,68)
Continuo pecoris generosi pullus in arvis
altius ingreditur et mollia crura reponit;
primus et ire viam et fluvios temptare minantis
audet et ignoto sese committere ponti,
nec vanos horret strepitus. Illi ardua cervix
argutumque caput, brevis alvus obesaque terga,
luxuriatque toris animosum pectus . . .
. . . Tum, si qua sonum procul arma dederunt,
stare loco nescit, micat auribus et tremit artus,
conlectumque premens volvit sub naribus ignem.

(Ver.Georg.3,75ff.)
68.
Höheren Gangs gleich schreitet ein Füllen von edeler Abkunft
Auf dem Gefilde daher und setzt die geschmeidigen Schenkel.
Vorzurennen den Weg und den drohenden Strom zu versuchen
Wagt es, und sich zu vertraun der noch nie betretenen Brücke,
Nie auch bebt es vor leerem Geräusch; hoch trägt es den Nacken;
Fein ist der Kopf, schmal formt sich der Bauch und feist ist der Rücken,
Strotzend von Muskeln die mutige Brust. . . .
. . . Sodann, wenn fernher Waffengeklirr tönt,
Nicht mehr hält es; es spitzet das Ohr und die Glieder erzittern,
Und seinen Nüstern entströmt das schnaubend verhaltene Feuer.
(Ver.Georg.3,75ff.)
(95,69) Dum aliud agit, Vergilius noster descripsit virum fortem: ego certe non aliam imaginem magno viro dederim. Si mihi M. Cato exprimendus sit inter fragores bellorum civilium inpavidus et primus incessens admotos iam exercitus Alpibus civilique se bello ferens obvium, non alium illi adsignaverim vultum, non alium habitum.
69. Indem unser Vergil von etwas anderem handelt, hat er einen tapferen Mann beschrieben; ich wenigstens würde von einem großen Mann kein anderes Abbild geben. Hätte ich den Marcus Cato darzustellen, wie er unter dem Getöse der Bürgerkriege unerschrocken und zuerst auf die schon an den Alpen stehenden Heere eindringt und dem Bürgerkrieg entgegentritt, ich würde ihm keine andere Miene, keine andere Haltung geben.
(95,70) Altius certe nemo ingredi potuit, quam qui simul contra Caesarem Pompeiumque se sustulit et aliis Caesareanas opes, aliis Pompeianas foventibus utrumque provocavit ostenditque aliquas esse et rei publicae partes. Nam parum est in Catone dicere "nec vanos horret strepitus". Quidni? cum veros vicinosque non horreat, cum contra decem legiones et Gallica auxilia et mixta barbarica arma civilibus vocem liberam mittat et rem publicam hortetur, ne pro libertate decidat, sed omnia experiatur, honestius in servitutem casura quam itura.
70. Höher wenigstens konnte niemand einherschreiten als er, der zugleich gegen Caesar und Pompeius sich erhob und, während die einen der Macht des Caesar die anderen der des Pompeius huldigten, beide herausforderte und zeigte, es gebe auch noch eine Partei der Republik. Denn es ist zu wenig, von Cato zu sagen: "Nie auch bebt er vor leerem Geräusch." Warum? Weil er auch vor dem wirklichen und nahen nicht erbebt; weil er gegen zehn Legionen und gallische Hilfsvölker und barbarische, den römischen vermischte, Waffen die freie Stimme erhebt und den Staat ermahnt, für die Freiheit den Mut nicht sinken zu lassen, sondern alles zu versuchen, da es ehrenvoller für ihn sei, in die Sklaverei zu fallen, als zu gehen.
(95,71) Quantum in illo vigoris ac spiritus, quantum in publica trepidatione fiduciaest! Scit se unum esse, de cuius statu non agatur; non enim quaeri, an liber Cato, sed an inter liberos sit: inde periculorum gladiorumque contemptus. Libet admirantem invictam constantiam viri inter publicas ruinas non labantis dicere "luxuriatque toris animosum pectus".
71. Wie viel Feuer und Mut, wie viel Zuversicht bei dem allgemeinen Zagen zeigt sich an ihm! Er weiß, dass er der einzige ist, um dessen Zustand es sich nicht handelt; denn es frage sich nicht, ob Cato (selbst) frei, sondern ob er unter Freien sei. Daher die Verachtung der Gefahren und der Schwerter! Wer die Standhaftigkeit des bei dem allgemeinen Zusammensturz nicht schwankenden Mannes bewundert, fühlt sich bestimmt, (von ihm) zu sagen: "Und ihm strotzet von Muskeln die mutige Brust".
(95,72) Proderit non tantum, quales esse soleant boni viri, dicere formamque eorum et liniamenta deducere, sed, quales fuerint, narrare et exponere, Catonis illud ultimum ac fortissimum vulnus, per quod libertas emisit animam, Laeli sapientiam et cum suo Scipione concordiam, alterius Catonis domi forisque egregia facta, Tuberonis ligneos lectos, cum in publicum sterneret, haedinasque pro stragulis pelles et ante ipsius Iovis cellam adposita conviviis vasa fictilia. Quid aliud paupertatem in Capitolio consecrare? Ut nullum aliud factum eius habeam, quo illum Catonibus inseram, hoc parum credimus? censura fuit illa, non cena.
72. Es wird von Nutzen sein, nicht bloß zu sagen, wie tugendhaftes Männer zu sein pflegen, und ihre Gestalt und Züge zu zeichnen, sondern (auch) zu erzählen, wie sie gewesen sind, und jene letzte und tapferste Wunde Catos zu zeigen, durch die die Freiheit den Geist aufgab; (ferner) die Weisheit des Laelius und seine Eintracht mit seinem Cato; die herrlichen Taten des anderen Cato zu Hause und im Feld; die hölzernen Bänke des Tubero bei dem öffentlichen Gastmahl, die Ziegenfelle statt der Teppiche und die irdenen Gefäße vor der Kapelle des Iupiter selbst für die Mahlzeiten aufgestellt. Was heißt dies anderes, als die Armut auf dem Capitol heiligen? Gesetzt, ich hätte keine andere Tat, um jenen den Catonen einzureihen, halten wir dies für zu wenig? Das war eine Zensur, keine Mahlzeit.
(95,73) O quam ignorant homines cupidi gloriae, quid illa sit aut quemadmodum petenda! Illo die populus Romanus multorum supellectilem spectavit, unius miratus est. Omnium illorum aurum argentumque fractum est et [in] milliens conflatum, at omnibus saeculis Tuberonis fictilia durabunt. Vale!
73. Ach, wie wenig wissen die nach Ruhm begierigen Menschen, was dieser ist und wie zu erlangen! An jenem Tag sah das römische Volk das Tischgerät von vielen, (aber) das eines einzigen bewunderte es. Das Gold und Silber all jener ist zerbrochen und tausendmal eingeschmolzen; aber die irdenen Gefäße des Tubero werden alle Jahrhunderte überdauern. Lebe wohl!

 

Sententiae excerptae:
Lat. zu "Sen" und "epist.95,"
1567
Postea noli rogare quod inpetrare nolueris!
In Zukunft bitte um nichts, was du nicht zu erhalten wünschst!
Sen.epist.95,1.

1568
Interdum enixe petimus id, quod recusaremus, si quis offerret.
Zuweilen bitten wir inständig um etwas, was wir zurückweisen würden, wenn es uns jemand anböte.
Sen.epist.95,1.

1573
Philosophia autem et contemplativa est et activa: spectat simul agitque.
Die Philosophie aber ist teils beschaulich (theoretisch), teils selbsttätig (praktisch); sie forscht zugleich und handelt.
Sen.epist.95,10.

1574
Decreta sunt, quae muniant, quae securitatem nostram tranquillitatemque tueantur, quae totam vitam totamque rerum naturam simul contineant.
Die Lehrsätze sind es, die uns stützen, die unsere Sicherheit und Ruhe verbürgen, die das ganze Leben und die ganze Natur zugleich umfassen.
Sen.epist.95,12.

1354
Antiqua sapientia nihil aliud quam facienda ac vitanda praecepit, et tunc longe meliores erant viri.
Die alte Philosophie schrieb nur vor, was man tun und meiden muss; und damals waren die Menschen weit besser.
Sen.epist.95,13 (Ariston)

1575
Simplex enim illa et aperta virtus in obscuram et sollertem scientiam versa est docemurque disputare, non vivere.
Jene einfache und unverstellte Tugend ist in eine dunkle und spitzfindige Wissenschaft verkehrt worden und man lehrt uns diskutieren, nicht leben.
Sen.epist.95,13.

1576
Tam novo aegrotamus genere, quam vivimus.
Wir erkranken so sehr in neuer Weise, wie wir (in neuer Weise) leben. (Neue Krankheiten sind die Folge neuer Lebenweisen.)
Sen.epist.95,19.

1569
Multa videri volumus velle, sed nolumus.
Bei vielen wollen wir scheinen, es zu wünschen, wünschen es aber nicht (wirklich).
Sen.epist.95,2.

1577
Di boni, quantum hominum unus venter exercet!
Gute Götter! Welche Schar von Menschen setzt ein einziger Bauch in Trab!
Sen.epist.95,24

1578
Quare ego ad unam rem manum porrigam? plura veniant simul!
Warum soll ich nach einer Sache die Hand ausstrecken? Mehreres komme zugleich!
Sen.epist.95,27

1579
Publice iubentur vetata privatim.
Was im Privatleben verboten ist, wird von Staats wegen geboten.
Sen.epist.95,30

1580
Non pudet homines, mitissimum genus, gaudere sanguine alterno et bella gerere gerendaque liberis tradere, cum inter se etiam mutis ac feris pax sit.
Die Menschen, die sanfteste Art (von Geschöpfen), schämen sich nicht, sich gegenseitig an ihrem Blut zu letzen, Kriege zu führen und diese ihren Kindern zu hinterlassen, während selbst unter vernunftlosen und wilden Tieren Frieden herrscht.
Sen.epist.95,31

1581
Omnia praeter virtutem mutat nomen, modo mala fiunt, modo bona.
Alles außer der Tugend wechselt den Namen und wird bald ein Übel, bald ein Gut.
Sen.epist.95,35

1582
Di immortales nullam didicere virtutem: cum omni editi et pars naturae eorum est bonos esse.
Die unsterblichen Götter haben keine Tugend erlernt, (sondern) sind mit jeder geboren und gut zu sein ist ein Teil ihrer Natur.
Sen.epist.95,36

1583
Non promittet se talem in perpetuum, qui bonus casu est.
Wer (nur) durch Zufall gut ist, lässt nicht erwarten, dass er es für immer ist.
Sen.epist.95,39

1570
Beata vita constat ex actionibus rectis; ad actiones rectas praecepta perducunt; ergo ad beatam vitam praecepta sufficiunt.
Ein glückseliges Leben beruht auf guten Handlungen; zu guten Handlungen aber führen Vorschriften; also genügen Vorschriften zu einem glückseligen Leben.
Sen.epist.95,4.

1584
Eadem aut turpia sunt aut honesta: refert, quare aut quemadmodum fiant.
Die selbe Sache ist bald schimpflich, bald ehrenvoll; es kommt darauf an, weshalb und wie sie geschieht.
Sen.epist.95,43

1345
Amico aliquis aegro adsidet: probamus. At hoc hereditatis causa facit: vultur est, cadaver expectat. Eadem aut turpia sunt aut honesta: refert, quare aut quemadmodum fiant.
Jemand sitzt bei seinem kranken Freund: dies billigen wir. Aber er tut es, um zu erben: er ist ein Geier und wartet auf Aas. Die selbe Handlung ist schändlich und sittlich gut. Entscheidend ist, warum und wie etwas geschieht.
Sen.epist.95,43

1585
Proponamus oportet finem summi boni, ad quem nitamur, ad quem omne factum nostrum dictumque respiciat; veluti navigantibus ad aliquod sidus derigendus est cursus.
Wir müssen uns das Ziel des höchsten Gutes vorsetzen, dem wir nachstreben sollen, das jede unserer Handlungen, jedes unserer Worte berücksichtigen soll, gleich wie die Schiffenden ihren Kurs nach irgendeinem Gestirn zu richten haben.
Sen.epist.95,45

1586
Vita sine proposito vaga est.
Ein Leben ohne vorgestecktes Ziel ist unstet.
Sen.epist.95,46

1587
Deum colit, qui novit.
Gott verehrt, wer ihn kennt.
Sen.epist.95,47

1588
Non quaerit ministros deus: ipse humano generi ministrat, ubique et omnibus praesto est.
Die Gottheit braucht (sucht) keine Diener: sie dient selbst dem Menschengeschlecht, sie ist überall und allen zur Hilfe bereit.
Sen.epist.95,47

1589
Di nec accipere iniuriam queunt nec facere.
Die Götter können weder Unrecht erleiden, noch zufügen.
Sen.epist.95,49

1571
Etiam si recte faciunt, nesciunt facere se recte.
Manche wissen auch gar nicht, dass sie recht tun, auch wenn sie es tun.
Sen.epist.95,5.

1590
Primus est deorum cultus deos credere; deinde reddere illis maiestatem suam, reddere bonitatem.
Die erste Verehrung der Götter ist, an Götter zu glauben; sodann ihre Majestät, ihre Güte anzuerkennen.
Sen.epist.95,50

1591
Satis deos coluit, quisquis imitatus est.
Hinlänglich verehrt die Götter, wer sie nachahmt.
Sen.epist.95,50

1592
Magna scilicet laus est, si homo mansuetus homini est.
Ein großes Lob freilich ist es, wenn ein Mensch dem anderen gewogen ist!
Sen.epist.95,51

1593
Omne hoc, quod vides, quo divina atque humana conclusa sunt, unum est; membra sumus corporis magni.
Dies alles, was du siehst, worin Göttliches und Menschliches inbegriffen ist, ist eines: wir sind Glieder eines großen Körpers.
Sen.epist.95,51

1594
Natura nos cognatos edidit, cum ex isdem et in eadem gigneret; haec nobis amorem indidit, mutuum et sociabiles fecit.
Die Natur hat uns als Verwandte erschaffen, da Sie uns aus demselben Stoff und demselben Zweck hervorbrachte. Sie hat uns gegenseitige Liebe eingepflanzt und uns gesellig gemacht.
Sen.epist.95,52

1595
Natura aequum iustumque composuit.
Die Natur hat Billigkeit und Gerechtigkeit gegründet.
Sen.epist.95,52

1596
Ex naturae imperio paratae sint iuvandis manus.
Nach dem Befehl der Natur sollen die Hände für die Hilfsbedürftigen bereit sein.
Sen.epist.95,52

1598
Habeamus: in commune nati sumus.
Halten wir (die Überzeugung) fest: Wir sind zur Gemeinschaft geboren.
Sen.epist.95,53

1599
Societas nostra lapidum fornicationi simillima est, quae, casura nisi in vicem obstarent, hoc ipso sustinetur.
Unsere gesellschaftliche Verbindung ist einem Steingewölbe sehr ähnlich, das einstürzen würde, wenn (die Steine) sich nicht wechselseitig entgegen stünden; eben dadurch wird es gehalten.
Sen.epist.95,53

1249
Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas: ab hac enim est actio.
Eine Handlung wird nicht richtig sein, wenn der Wille nicht richtig war; denn von ihm hängt die Handlung ab.
Sen.epist.95,57

1250
Voluntas non erit recta, nisi habitus animi rectus fuerit: ab hoc enim est voluntas.
Der Wille wird nicht richtig sein, wenn die Geisteshaltung nicht richtig war; denn von ihr hängt der Wille ab.
Sen.epist.95,57

1251
Habitus animi non erit in optimo, nisi totius vitae leges perceperit et, quid de quoque iudicandum sit, exegerit, nisi res ad verum redegerit.
Mit der Geisteshaltung wird es nicht zum besten stehen, wenn sie nicht die Gesetze des gesamten Lebens verinnerlicht, sich ein umfassendes Urteilsvermögen gebildet und wenn es nicht die Dinge auf ihren wahren Kern zurückgeführt hat.
Sen.epist.95,57

1600
Nihil liquet incertissimo regimine utentibus, fama.
Denen, die sich der unsichersten Führerin, der (öffentlichen) Meinung, überlassen, ist nichts klar.
Sen.epist.95,58

1601
Folia per se virere non possunt, ramum desiderant, cui inhaereant, ex quo trahant sucum.
Blätter können für sich allein nicht grünen, sondern verlangen einen Zweig, an dem sie hängen, aus dem sie den Saft ziehen können.
Sen.epist.95,59

1602
Quaedam aperta sunt, quaedam obscura: aperta, quae sensu conprehenduntur, quae memoria; obscura, quae extra haec sunt. Ratio autem non impletur manifestis: maior eius pars pulchriorque in occultis est.
Einiges ist klar, einiges dunkel. Klar ist, was mit dem Sinn und Gedächtnis aufgefasst wird, dunkel, was außerhalb dieses Gebietes liegt. Die Vernunft aber begnügt sich nicht mit dem, was augenfällig ist; ihr größerer und schönerer Teil hat es mit dem Verborgenen zu tun.
Sen.epist.95,62

1603
Amicum eodem habeas loco, quo te!
Achte einen Freund dir selbst gleich!
Sen.epist.95,63

1604
Ex inimico cogita fieri posse amicum, in illo amorem incites, in hoc odium modereris!
Bedenke, dass aus einem Feind ein Freund werden kann, entfache in jenem die Liebe, beschwichtige in diesem den Hass.
Sen.epist.95,63

1605
Et sine radice inutiles rami sunt et ipsae radices iis, quae genuere, adiuvantur.
Die Zweige sind unnütz ohne Wurzel und die Wurzeln selbst werden durch das gefördert, was sie erzeugt haben.
Sen.epist.95,64

1606
In philosophia arcana illa admissis receptisque in sacra ostenduntur.
In der Philosophie werden jene Geheimnisse (nur) denen offenbart, die in die heilige Gemeinschaft zugelassen und aufgenommen sind.
Sen.epist.95,64

1607
Proponamus laudanda, invenietur imitator!
Stellen wir doch das Lobenswerte vor Augen: ein Nachahmer wird sich finden!
Sen.epist.95,66

1608
Aurum argentumque fractum est et milliens conflatum, at omnibus saeculis Tuberonis fictilia durabunt.
Das Gold und Silber ist zerbrochen und tausendmal eingeschmolzen; aber die irdenen Gefäße des Tubero werden alle Jahrhunderte überdauern.
Sen.epist.95,73

1572
Grammaticus non erubescet soloecismo, si sciens fecit, erubescet, si nesciens.
Ein Grammatiker wird nicht über einen Fehler erröten, wenn er ihn mit Wissen macht, er wird (aber) erröten, wenn er ihn ohne Wissen gemacht hat.
Sen.epist.95,9.

1597
Homo sum, humani nihil a me alienum puto.
Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches acht' ich mir fremd.
Ter.Haut.77. Sen.epist.95,53


Literatur:
zu "Sen" und "epist.95,"
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