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Die Attische Tragödie

Auswahl einer Schullektüre, mit variierenden Zugaben (z.B.: Übersetzungen, Übersetzungshilfen, Interpretationshinweise und Aufgaben)

 

Grundsätzliches zur Definition und zum Ideengehalt der Attischen Tragödie

 

 

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INHALT:
  1. Modern- und Antik-Tragisches
    1. Moderne Grundbegriffe
    2. Rückgriff auf Aristoteles
      1. Handlungsumschwung
      2. Kathartische Wirkung
      3. Tragischer Konflikt
    3. Wilamowitz' Tragödiendefinition
      1. Ist die Tragödienaufführung Teil des dionysischen Kultes?
      2. Gehört es zu ihrem Wesen, dass ihr Stoff ein in sich abgeschlossenes Stück der Heldensage ist?
      3. Ist ein erzieherischer Einfluss der Tragödie ein beabsichtigter Zweck?
  2. Ideengehalte (Interpretationsaspekte)
    1. Das Verhältnis Gott - Mensch als übergreifende Antinomie
      1. Die Formel von Schuld und Sühne
        1. Aischylos:
        2. Sophokles
      2. Die Formel vom göttlichen Willen und menschlicher Ausgesetztheit
        1. Wissen und Meinen
        2. Entgehen-Wollen und Erliegen
        3. Willensfreiheit und Fatalismus
      3. Die Kitto-Formel von "Schlag und Rückschlag"
  3. Schema zur Ursprungstheorie der griechischen Tragödie
 

 

 

 

Darstellung:
  1. Modern- und Antik-Tragisches

    1. Moderne Grundbegriffe:

      Nach Schadewaldt konstituiert sich das Tragische nach unserer Schulästhetik vor allem durch drei Begriffe:

      1. Tragisches Schicksal: Der Mensch verstanden als die Marionette eines unentrinnbaren Fatums
      2. Tragische Schuld: Der Held muss verhältnismäßig schwer büßen für seine Schuld, in die er sich meist aus edlen Motiven verstrickt hat.
      3. Tragischer Konflikt: Der Mensch nuss sich zwischen zwei verbindlichen Normen (Pflichten) entscheiden, die
        • von außen gegeben sind (Staat und Familie)
        • innerlich begründet sind (Pflicht und Neigung).

      Schadewaldt führt weiter aus, dass diese moderne Deutung des Tragischen auf die antike Tragödie (wie auch auf Shakespeare), die viel einfacher, elementarer und kompakter sei, nicht zutreffe.

       

    2. Rückgriff auf Aristoteles:

      Um eine der Attischen Tragödie adäquate Vorstellung des Tragischen zu gewinnen, greift man am besten auf theoretische Vorstellungen bei den Griechen zurück. Grundlage ist das 6. Kapitel der Poetik des Aristoteles:
      Aristot.Poet. 1449b24:"Die Tragödie ist die Nachahmung (μίμησις) einer edlen und abgeschlossenen (τελείας) Handlung (πράξεως) von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart... dass mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben derartigen Affekten bewerkstelligt wird." (Üb.: O.Gigon, Stuttgart 1966)

      Die Handlung ist also durch die erstrebte Wirkung als schrecklich und jammervoll gekennzeichnet. Als tragisch ist sie näher bestimmt durch:

      Aristot.Poet.1450a17: "In der Handlung wirkt ein glück- und unglückbringender Daimon: καὶ εὐδαιμονία καὶκακοδαιμονία ἐν πράξει ἐστίν."
       
      1. Handlungsumschwung:

        Tragische Handlung versteht sich nach Aristoteles also als Wechsel oder Umschwung von Glück und Unglück, mit dem zugleich notwendig das Erlebnis des Leides verbunden ist.

         

      2. Kathartische Wirkung:

        Die Wirkung, die von der Tragödie auf die Zuschauer überspringen soll, interpretiert Schadewaldt: Sie sollen "am Ende wundersam erleichtert, aufatmend, mit befreitem Gefühl das Theater" verlassen, gereinigt durch das "spezifisch tragische Vergnügen, das... auf der Erregung der menschlichen Elementaraffekte des Schreckens und Schauderns und sodann des Jammers" beruht, ohne dass wir ihre Wirkung im Sinne moralischer Besserung missverstehen dürften. (S. 268f.)

         

      3. Tragischer Konflikt:

        Damit sich dieser tragische Umschwung wirksam vollziehen kann, ist der Konflikt (nicht in dem oben skizzierten engeren Sinn, sondern als tragisches Grundphänomen) unbedingte Voraussetzung, entsprechend einem Goethewort (6.6.1824) an den Kanzler Müller (zitiert nach Lesky (1) 293):

        "Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleich eintritt, oder möglich, schwindet das Tragische."

        Oder ähnlich ein anderes Goethewort (28.3.1827) zu Eckermann (zitiert nach Schadewaldt 293): 

        "Es komme (in der Tragödie) im Grunde bloß auf den Konflikt an, der keine Auflösung zulässt, und dieser kann entstehen aus dem Widerspruch welcher Verhältnisse er wolle, wenn er nur einen echten Naturgrund hinter sich hat."

        Beispiele für einfache tragische Grundsituationen findet man (nach K.v.Fritz) bei H.Patzer 5ff

    3. Wilamowitz' Tragödiendefinition:

      (Wilamowitz, Euripides Herakles I, Darmstadt (WBG) 1959, S. 108):
      "Eine attische Tragödie ist ein in sich abgeschlossenes Stück der Heldensage, poetisch bearbeitet in erhabenem Stile für die Darstellung durch einen attischen Bürgerchor und zwei bis drei Schauspieler, und bestimmt als Teil des öffentlichen Gottesdienstes aufgeführt zu werden."

      Die Erweiterungen gegenüber Aristoteles werfen drei Fragen auf. Ihre Beantwortung wird es als vorteilhaft erscheinen lassen, sich mit unserem Ausgangspunkt Aristoteles zu bescheiden und die Frage nach Kulturcharakter und Bildungstendz der Tragödie zu übergehen: 

       

      1. Ist die Tragödienaufführung Teil des dionysischen Kultes?

        Die Beziehung zu Dionysos ist ein historisches Faktum:

        1. Die Aufführungen fanden an seinen drei Festen statt,
        2. der Chor, ein ursprünglich dionysisches Element, bleibt bis zuletzt die Hauptsache für die amtliche Bedeutung der Tragödie und
        3. das Theater liegt im Heiligen Bezirk des Dionysos.

        Daraus lässt sich aber nicht folgern, die Tragödie sei Teil des öffentlichen Gottesdienstes; höchstens, dass sie der Ausschmückung des Festes diente. Außerdem hat die Tragödie, wie der Dithyrambos, eine Entwicklung durchlaufen, die sie von gottesdienstlichen Handlungen zu literarischen Gattungen machte. Auch das Heldenepos  hat profanen Charakter. 

         

      2. Gehört es zu ihrem Wesen, dass ihr Stoff ein in sich abgeschlossenes Stück der Heldensage ist?

        Alle erhaltenen Stücke und die Titel und Hypotheseis der verlorenen Stücke sprechen dafür. Dadurch unberührt bleibt die Feststellung des Aristoteles, der μῦθος (Gegenstand, Stoff) könne prinzipiell auch erfunden sein. Für die Perser des Aischylos und die beiden historischen Stücke des Phrynichos ist festzustellen, dass sich in der Vorstellung der Griechen Mythos und Geschichte zäsurlos aneinander reihten, Heroengeschichte also Alte Geschichte bedeutete. 

         

      3. Ist ein erzieherischer Einfluss der Tragödie ein beabsichtigter Zweck?

        Die Tragödie kann natürlich, wie jede Dichtung, bildende Wirkung ausüben, ist aber zunächst einmal eine literarische, keine pädagogische Erscheinung, etwa im Sinne der "Moralischen Anstalt" Schillers. Snell (Entdeckung des Geistes) weht sich zu Recht gegen den Versuch Jaegers, die gesamte griechische Dichtung als Bildungsaufgabe aufzufassen, und weist nach, dass diese Tendenz erst in der Zeit des Sophismus aufkam. Die Tragödie ist reine Literatur ohne Nebenabsicht, wenn auch Nebenwirkungen unbeabsichtigt vorhanden sein können.

         

  2. Ideengehalte (Interpretations-
    aspekte)

    1. Das Verhältnis Gott - Mensch als übergreifende Antinomie

      Um der Bandbreite der grundsätzlichen Ideengehalte der attischen, insbesondere sophokleischen Tragödie auch nur annähernd gerecht zu werden, beschränken wir uns auf die übergreifende Antinomie Gott - Mensch. Dazu glauben wir uns aus der Sache heraus berechtigt, weil (nach einer Formulierung Weinstocks (S. 41) die Gestalten des Sophokles "angesichts der Götter leben". Ähnlich Kierkegaard (zitiert nach Weinstock 41): "Wie schrecklich ist es, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen: das ist der kurze Inhalt der griechischen Tragödie.

      Damit erweist sich schließlich die Theodizee als zentrale Fragestellung: Wie erklärt sich die Paradoxie des Göttlichen, das sowohl Schreckenstaten fordert als auch Frömmigkeit? Drei Lösungsansätze konkurrieren miteinander:

      1. Die Formel von Schuld und Sühne

        1. Aischylos:

          Folgen wir den Interpretationen Leskys (4) (93 ff.) zu Aischylos, so eröffnet diese Formel weniger umstritten den Weg zum Tragischen bei Aischylos, wobei Schuld einmal aus der freiwilligen und in voller Verantwortlichkeit getroffenen Entscheidung erwächst und somit rational fassbar ist. Diese Entscheidung ist aber stets erzwungen. Der Held kann sich ihr nicht entziehen und handelt, gleichgültig wie er sich entscheidet, stets schuldhaft. So z.B., wenn Orestes vor die Entscheidung gestellt ist, dem Befehl Apollons, seinen Vater zu rächen, entweder zu gehorchen und dadurch zum Muttermörder zu werden, oder dem Gott den Gehorsam zu verweigern, wofür ihm schreckliche Gefahren angedroht sind. 

          Aischylos:
          1. Entscheidungsnot die zwangsweise in die Schuld führt
            1. individuell und rational nachvollziehbar 
            2. kollektiv und irrational (Geschlechterfluch).
          2. Persönliche Aneignung der aufgezwungenen Entscheidung.
          3. Aufhebung des Leids in einer höheren Ordnung.

          in vergleichbarer Entscheidungsnot steht der Basileus in den Hiketiden: Soll er die Aufnahme der Schutzflehenden ablehnen (Verstoß gegen die religiöse Pflicht) oder gestatten (und so schuldhaft seinem Volk leidvollen Krieg verursachen)?

          Zweitens erwächst Schuld bei Aischylos irrational aus der schicksalhaften Macht des Erbfluches, dem die Vorstellung zu Grunde liegt, eine individuelle Schuld verseuche ihre ganze Umgebung und erzeuge mit Notwendigkeit neue Schuld.

          Typisch für Aischylos ist, dass sich der Held auf einer zweiten Stufe persönlich völlig mit seiner aus dem Zwang erwachsenen Entscheidung identifiziert und schließlich durch leidvolle Sühne zur Einsicht in das letztlich doch gerechte und gütige Walten eines obersten göttlichen Willens , des Willens des Zeus geführt wird.

          So finden die aischyleischen Tragödien auch einen überwiegend friedlich stimmenden Ausgang (etwa der Urteilsspruch in den Eumeniden, wo sowohl der Anspruch Apollons als auch der Erinyen in sein Recht gesetzt und einem übergeordneten göttlichen Gesamtplan unterstellt wird.

           

        2. Sophokles:

          Der Versuch, die Tragik der sophokleischen Tragödien auf ein gegenseitiges Aufrechnen von Schuld und Sühne zu reduzieren, steht hauptsächlich in der Nachfolge der hegelschen Antigoneinterpretation (Aesthetik II 2,1). (Schadewaldt 274; Lesky (1) 309)

          Mit dieser Formel von Schuld und Sühne ist man bei Sophokles vorsichtig geworden und misst ihr nur noch beiläufigen Wert zu. Dass die Klytaimnestra der Elektra eine Verbrecherin  ist, wird allgemein zugestanden (Kamerbeek 89), doch sie ist Nebenfigur. Auch der Kreon der Antigone trägt Schuld, wenn er über das rechte Maß als Herrscher so verabsolutiert, dass er sich gegen göttliches Recht vermisst und gegen das gültige Kriegsrecht. Doch heißt hier Schuld bereits Selbstüberschätzung (ὕβρις im Gegensatz zur σωφροσύνη), womit wir aus dem moralischen Bereich bereits heraustreten. 

          Die Schuldfrage des Aias ist noch nicht eindeutig beantwortet, doch neigt die Diskussion zu einer negativen Antwort: Repräsentativ für diesen Standpunkt: "Es scheint mir, dass Aias weit mehr durch das, was er ist, als durch das, was er fehlte, das Drama erfüllt." (Welcker, in: RhMus. 3/1829, S. 68). 

          Auch für Deianeira und Philoktetes ist die Schuldfrage auszuklammern. Zum Abschluss: "Es gibt kein einziges moralisches Schema, in dem die Handlungen des 'Aias' oder des 'Oedipus auf Kolonos' hineinpassen. Jahrhundertelang hat sich die religiöse und moralische Kraft der sophokleischen Dramen in einer Unmenge flacher Formulierungen verloren und keine davon ließ sich auf alle Dramen anwenden. Die verbreitetste Formel, die der Hamartia oder von Schuld und Bestrafung, lässt sich kaum auf ein einziges Drama anwenden. Diejenigen, die diese Tatsache erkannten, stellten die Gegenthese auf, nämlich dass Sophokles nicht die Gerechtigkeit, sondern die Macht der Götter und folglich die Nichtigkeit der Menschen proklamierte." (C.H. Withman 26f.) 

           

      2. Die Formel vom göttlichen Willen und menschlicher Ausgesetztheit

        Diese Formel (vgl. Lesky (4) 144f.) bietet das heute gängigste Interpretationsschema. H. Diller (in: Diller (Hg) (1) 2) formuliert: "Über jeder einzelnen der uns erhaltenen sophokleischen Tragödien stehen Aussagen über göttliche Pläne, die das Handeln oder das Schicksal der beteiligten Menschen in einer bestimmten Richtung festlegen. Die Menschen verkennen diesen göttlichen Willen oder versuchen, ihm wissentlich zu entgehen; er vollzieht sich dennoch an ihnen." An den Begriff des "Verkennens" knüpfen wir unsere erste Unterkategorie:

         

        1. Wissen und Meinen

          Damit gelangen wir zu einer Thematik der zeitgenössischen Sophistik, die sich dann in der groß angelegten Lehre Platons für uns scheinbar beruhigt. Dass sie nicht nur von der Philosophie beansprucht, sondern auch von Sophokles in tragisches Erleiden umgesetzt wird, kann nur auf den ersten Blick verwundern. 

          Lesky (1) 307 nennt die "Verfangenheit menschlichen Wähnens" einen "Grundzug sophokleischer Tragik". Der Mensch ist stolz auf seine Geistesgaben, die ihn aus dem Bereich des Animalischen zum Beherrscher über die gesamte Natur erheben; eindrucksvoll geschildert im bekanntesten Chorlied der Antigone. Die dem delphischen Auftrag entsprechend (Weinstock) notwendige Einsicht aber in die Nichtigkeit menschlichen gegenüber göttlichem Wissen vollzieht sich leidvoll tragisch und ist, wie später näher ausgeführt wird, gleichbedeutend mit der Einsicht in die menschliche Nichtigkeit und Wesensbegrenztheit überhaupt. Der Sehende hält sich zwar für wissend, ist es aber nicht: der Blinde ist der Sehende, der Sehende ist blind. 

          • Der blinde Teiresias ist in der Antigone der Klarsichtige, Kreon bis zu seiner Katastrophe der Verblendete. 
          • Der Rätselrater Oidipus richtet sich gerade durch seinen Intellekt zugrunde. Das göttliche Wissen, ständig in den Orakelsprüchen präsent, scheint schon zu unterliegen, Iokastes sophistische Schläue triumphiert schon, da offenbart sich schmerzlich die Wahrheit, und erst der geblendete Oidipus sieht klar.
          • Aias sit von Athene mit Wahnsinn geschlagen, als er ins Beutevieh einfällt. Als der Wahnsinn weicht, ist sein Schicksal besiegelt. Der Chor hatte in der Rückkehr seiner Vernunft eine Möglichkeit der Rettung erblickt, doch Tekmessa hatte recht: "Wir sind doppelt schlimm daran." (277)
          • Im Philoktetes wird Neoptolemos von dem "Drahtzieher Odysseus in Unkenntnis gehalten, und sein jugendlicher Idealismus für den teuflischen Plan, Philoktet seinen Bogen abzulisten, missbraucht, bis der Unwissende durch das Mit-Leiden mit Philoktet wissend wird." (Weinstock 49f.)
          • Deianeira in den Trachinierinnen ist unwissend über den Ausgang ihres Liebeszaubers; sie glaubte den Worten des Nessos, bis ihr im Leid die Augen geöffnet wurden.

             

        2. Entgehen-Wollen und Erliegen

          Dass dem Begriff des "Verkennens" der des "Zu-entgehen-versuchens" nicht alternativ entgegensteht, sondern irgendwie mit  ihm verwoben ist, zeigt sich am deutlichsten wieder im König Oidipus: 

          • Laios und Iokaste wollten ihrem Verhängnis entgehen, indem sie ihren Sohn aussetzen ließen: Oidipus, indem er sich aus Korinth entfernte. In unerhörter tragischer Ironie erfüllen sie aber gerade dadurch ihr Schicksal.
          • Deianeira kämpft gegen die Macht des Eros und der Aphrodite, wenn sie die Liebe ihres Gatten von Iolke zurückgewinnen will, und verliert sie ganz.
          • Wie sehr glaubte Aias seiner Ehrminderung durch das Waffenurteil durch tödliche Rache an den Griechen begegnen zu können. In Wirklichkeit büßte er seine ganz ein.
          • Kreon, der in seinem schuldhaft übersteigerten Despotismus versucht, einer Destabilisierung seiner Position zu entgehen, ist zugleich der Verblendete und gelangt erst im Leid zur Einsicht. 

          Sowohl im Oidipus als auch im Aias zeigt sich die enge Zuordnung dieser beiden menschlichen Wesenszüge: Der Rettungsversuch beruht auf bloß menschlichem Wähnen. Erst im Erliegen des Menschen offenbart sich das göttliche Wissen.  

           

        3. Willensfreiheit und Fatalismus

          Zeitweise hat man im Fahrwasser modernerer Dramatik versucht, die griechische Tragödie im Sinne eines reinen Fatalismus zu deuten, indem man den einen Aspekt der ἄτη, den des "gottgewollten Verhängnisses" verabsolutierte und den anderen, den der "menschlichen Verblendung" aus dem sich dann unser Begriff der "Schuld" (besonders im Sinne von ὕβρις) und des "Verkennens" herleitet, völlig übersah. Die Menschen der griechischen Tragödie sind keine Marionetten. Wenn schon bei Aischylos dem Befehl des Gottes die menschliche Motivation nachfolgte, so ist der Eigenwille des aus dem Erbfluch entlassenen sophokleischen Menschen noch viel augenfälliger, wenn sich auch beide Polaritäten immer in dem einen Punkt, der λύσις der Tragödie, treffen. Die sophokleischen Helden schlagen viel mehr "dadurch den Weg ihres Geschicks ein, dass sie ihrer inneren Norm folgen." (Kamerbeek 88). Nach Lesky (4) 146 "sollen wir an Aias und Oidipus nicht allein die Grenzen des Menschen erkennen, der vor dem Götterwillen zerbricht, wie der Halm im Sturme, auch die Größe sollen wir sehen, mit der diese tragischen Schicksalsträger ihrem Dämon begegnen....Hier wird nicht ein Schicksal leidend hingenommen, der tragische Mensch geht ihm mit dem Eifer eines Oidipus entgegen." Der wirklich tragische Mensch bewährt sich in seinem Leid.

           

      3. Die Kitto-Formel von "Schlag und Rückschlag"

        Innerhalb der sophokleischen Theodizeefrage ist Kitto auf Grund eines veränderten Religionsverständnisses einen Sonderweg gegangen: 

        Er versteht θεός als eine immanent im Menschen wirkende Kraft. Die θεοί, einzeln oder in ihrer Gesamtheit, seien nie als außerhalb des Menschen stehende normative Muster  verstanden worden, sondern als Manifestation dessen, was real ist. Die griechische Tragödie sei ganz frei von vagem Streben nach etwas Besserem, von Selbstbemitleidung, Unzufriedenheit und Verzweiflung und sage ständig: "Das sind die bleibenden Bedingungen menschlichen Lebens, das sind die Götter." (S. 60)

        Zu seiner Formel für das Tragische, gerafft in dem Begriffspaar "Schlag und Rückschlag" oder "Wirkung und Gegenwirkung" kommt er durch sein Verständnis von δίκη als der regelmäßigen Ordnung der Dinge, die zeitweise missachtet werden kann, sich dann aber durch entgegengesetzten Einschlag wieder einpendelt (S. 61), exemplifiziert am "Satz des Anaximandros". Auch zu Herodot ergeben sich deutliche Parallelen. 

        • Obwohl Oidipus nicht schuldhaft gefehlt hatte, war δίκη verletzt und Oidipus deshalb nicht zu retten.
        • In der Elektra bestand der "Schlag" in der Ermordung Agamemnons und dem Raub seiner Königswürde. 
        • In der Antigone überschreitet Kreon vermessen seine Machtbefugnis und verletzt durch die Klimax von Bestattungsverbot und den Tod von Haimon und Eurydike die Ordnung der Dinge.

        Dike ist dabei als immanentes Prinzip in menschlichen Angelegenheiten verstanden, nicht als Zwang von außen. Das menschliche Handeln ist das Spielfeld der Dike. Die Rückschläge sind nicht zufällig, sondern vorhersehbar und bedeutungsvoll. In der Theologie des Sophokles sind die Welt der Götter und die Welt der Menschen keine zwei Welten, sondern eine (S. 71). 

        Zu Recht darf man fragen, ob die Verneinung göttlicher Transzendenz wirklich der innigen Verflechtung und Gegenläufigkeit menschlicher und göttlicher Motivation gerecht werden kann.

  3. Schema zur Ursprungstheorie der griechischen Tragödie 

    (nach der Darstellung bei Lesky)

Schema zur Ursprungstheorie der griechischen Tragödie

 

 
Sententiae excerptae:
Griech. zu "Tragödie"
Literatur:
zu "Tragödie"
1066
Adams, S.M.
Salamis-Symphonie. Aischylos' "Perser"
in: Hommel (Hg.): Aischyl.II, WBG 1974

1084
Aischylos / Bogner, H.
Gefesselte Prometheus. Text, Übersetzung v. H.Bogner
Hdbg. (Kerle) 1949

1085
Aischylos / Droysen, J.G. / Nestle, W.
Aischylos, die Tragödien und Fragmente, übertragen v. J.G.Droysen; durchgesehen und eingeleitet v. W.Nestle
Stuttgart (Kröner) / (Klett) 1944

1086
Aischylos / Fraenkel, E.
Aeschylus Agamemnon edited with a Commentary by E. Fraenkel I-III
Oxford (Clarendon) 1962

1087
Aischylos / Groeneboom, P.
Aeschylus. Agamemnon. M.inl., crit. not.& comm. uitg. d. P.Groeneboom.
Amsterdam (Adolf M. Hakkert) 1944

1088
Aischylos / Groeneboom, P.
Aeschylus. Agamemnon. Greek text with German translation.Hardback,Ex-Library,with usual stamps markings
Amsterdam (Adolf M. Hakkert) 1966

1089
Aischylos / Mette, H.-J.
Fragmente der Tragödien des Aischylos
Berlin 1959

1090
Aischylos / Minckwitz, J.
Tragödien des Aeschylos, verdeutscht von J.Minckwitz
Stuttgart (Metzler) 9/1851

1091
Aischylos / Stäger, F.
Sieben gegen Theben. (Übersetzung)
Halle (Grunert) 1827

1092
Aischylos / Teuffel, W.S.
Perser. erklärt v. W.S.Teuffel
Lpz. (Teubner) 1901

1093
Aischylos / Verrall, A.W.
The Agamemnon with an introduction, commentary and translation
London (Macmillan) 1904

1095
Aischylos / Werner, O.
Tragödien und Fragmente. Text, Übersetzung v.O.Werner
Darmstadt (WBG, Tusc) 1988; Reinbek (rororo) 1966

1096
Aischylos / Wolde, L.
Tragödien und Fragmente. Übersetzung v. L.Wolde
Wiesbaden (Dieterich) o.J.

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Nur Theseus oder auch Peirithoos? Zur Hypothesis des Pseudo-Euripideischen "Peirithoos"
in: Herm. 134/2006, 290

776
Anliker, K.
Prologe und Akteinteilung in Senecas Tragödien
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777
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Zum "Agamemno" (Seneca. Tragödien)
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Aus der Vortragsreihe "Griechenland". I: Homer, II: Die griech.Tragödie
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Untersuchungen zur Sprache der euripideischen Lyrik.
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Chiha paura della giustizia? AeschChoeph. 55-65
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Medea oratrix (Sen. Med. 179-300)
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Zu den Phoenissen des Euripides.
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Paideía oder Paidiá : Aristoteles und Aristophanes zur Wirkung der griechischen Tragödie
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Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristoteles-Forschung
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Lessing und Aristoteles : Untersuchung über die Theorie der Tragödie
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Die Aeneis und die griechische Tragödie. Studien zur imitatio-Technik Vergils
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Euripides und Homer. Untersuchungen zur Homernachwirkung in "Elektra", "Iphigenie im Taurerland", "Helena", "Orestes" und "Kyklops"
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Die Gebete bei Euripides und die zeitliche Folge der Tragödien.
Vandenhoeck & Ruprecht 1971 (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Heft 32)

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Lefèvre, E.
Die politische Bedeutung der römischen Tragödie und Senecas "Oedipus"
in: ANRW II.32.2 (1985) 1242-1262

1844
Lefèvre, E.
Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödie am Beispiel des "Thyestes"
in: ANRW II.32.2 (1985) 1263-1283

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Lefèvre, Eckard
Schicksal und Selbstverschuldung in Senecas Agamemnon
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Die Tragödie des Humanismus ohne Gott. Feuerbach - Nietzsche - Comte und Dostojewskij als Prophet
Salzburg 1950

2659
Lurje, Michael
Die Suche nach der Schuld : Sophokles' Oedipus Rex, Aristoteles' Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit
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Die Poetisierung und Mythisierung der Geschichte in der Tragödie "Octavia"
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Das politische Denken der Griechen : klassische Politik von der Tragödie bis zu Polybios ; die Tragödie, Thukydides, Platons Politeia, Aristoteles, Polybios
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Stoische Doktrin in römischer Belletristik : das Problem von Entscheidungsfreiheit und Determinismus in Senecas Tragödien und Lucans Pharsalia
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