4./5. Buch:
Vom Anfang des 4. Buches an werden etwaige Einwände gegen die bisherigen Einrichtungen des Staates entkräftet:
- Der Wächter- und Soldatenstand darf mit dieser Einrichtung zufrieden sein. (cap.2)
- Reichtum sowohl wie Armut verderben jeden Künstler, also auch unsere Hüter und Wehrmänner.
- Unser Staat braucht einen Kampf mit einem reichen und großen Staat nicht zu fürchten, solange er seine Einheit und Harmonie bewahrt (cap.3).
Diese Einheit wird erhalten, wenn
- der Staat sich nur so weit vergrößert, dass dadurch seine Einheit nicht gefährdet wird;
- jeder im Staat die Stelle bekommt, zu der er seiner natürlichen Anlage nach geeignet ist;
- die beiden oberen Stände Weiber und Kinder gemeinschaftlich haben;
- die Verfassung beibehalten wird; dies geschieht aber durch Aufrechterhaltung der oben genannten Bestimmungen über die beiden Hauptbildungs- und Erziehungsmittel, über Musik im weiteren Sinn und Gymnastik. Durch eine gute Erziehung ist der Staat dann der Menge Gesetze und Verordnungen überhoben, durch die schlecht eingerichtete Staaten den kranken Körper vergebens zu kurieren suchen. - Die religiösen Bestimmungen werden von der jeweiligen Eigentümlichkeit eines Landes abhängig erklärt und daher übergangen (cap.6).
Nachdem also ein Staat oder der Mensch im Großen dargestellt ist, wird nun in ihm das Wesen und die eigentliche Natur der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit erforscht. Wenn unser Staat richtig und vollkommen aufgeführt sei, müsse er auch die vier Charaktere einer jeden Vollkommenheit besitzen, nämlich Weisheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit. Wenn die drei ersten gefunden sind, ergibt sich dann die Erkenntnis der Gerechtigkeit von selbst.
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Die Tugenden im Staat:
- Weise ist der Staat, sofern er zu beraten weiß, wie er sich sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere Staaten am besten zu betragen habe; da dies nur durch die Staatshüter geschieht, ist Weisheit nur das Eigentum eines, und zwar des kleinsten Standes (cap.7).Die
- Tapferkeit besteht in der Aufrechterhaltung der Meinung über das Furchtbare, die vom Gesetz durch Erziehung eingeflößt wurde. Sie ist gleichfalls Eigentum nur eines Standes, nämlich des Wehrstandes (cap.8).
- Mäßigkeit und Besonnenheit besteht in der naturgemäßen Übereinstimmung der Schlechteren und der Besseren in Bezug auf die Frage, welche die Oberhand haben müssen, und ist somit Eigentum aller Stände.
- Schließlich die noch fehlende Tugend, die Gerechtigkeit: Sie besteht darin, dass jeder in dem Stand und Geschäft, zu dem er nach seinen Anlagen geeignet ist, seine Schuldigkeit tut und die Vielgeschäftigkeit vermeidet. Geschieht dies nicht, drängen sich Menschen ohne die dazu gehörigen Fähigkeiten und Übungen in einen der beiden oberen Stände, und werden die zum Herrschen geschaffenen goldenen und silbernen Seelen von den für sie passenden Stellen verdrängt, so erfährt der Staat dadurch das größte Unheil und die größte Übeltat, d.h. er ist mit Ungerechtigkeit behaftet. -
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Die Gerechtigkeit im Individuum:
- Nachdem das Wesen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Staat erforscht und geschaut ist, folgt ab Mitte cap.11 die Betrachtung des Wesens und der Natur der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im menschlichen Individuum. Dieses kann nur auf die selbe Weise gerecht sein wie der Staat, nämlich dadurch, dass, wie der Staat drei Stände, so der Mensch drei verschiedene Seelenvermögen besitzt: Vernunft, Mut oder Zornesmut und Begehrlichkeit. (Dies wird zunächst nur empirisch-psychologisch untermauert, in Buch VI cap.16 metaphysisch bewiesen).
- Die Gerechtigkeit im Individuum besteht ebenfalls darin, dass jedes der drei Seelenvermögen das von der Natur ihm angewiesene Geschäft verrichtet und nicht das Amt des anderen usurpiert, dass also das Vernunftvermögen regiert, der Zornmut - nach empfangener Bildung durch Musik (in weiterem Sinn) und Gymnastik - die Vernunft bei ihren Verordnungen unterstützt, und dass endlich die Begierden sich jenen Verordnungen gehorsam fügen. Der einzelne Mensch ist auf die selbe Art wie der Staat besonnen oder mäßig, tapfer und weise (cap.18).
- Die Ungerechtigkeit besteht beim Individuum gleichfalls darin, dass die drei Seelenvermögen ihre Tätigkeit untereinander verwechseln, wodurch Verwirrung und Empörung entsteht. Die Ungerechtigkeit gleicht also einer zerstörenden Krankheit, die Gerechtigkeit aber der Gesundheit; ebenso gleichen ungerechte Handlungen ungesunden und giftigen Nahrungsmitteln, die gerechten gesunden (Mitte cap.18).
Damit ist der erste Teil der Aufgabe unseres Werkes (vgl. die Rede Glaukons am Anfang des 2. Buches), nämlich nach dem Wesen und der eigentümlichen Natur der Gerechtigkeit beendet.
2. Werkteil:
>Mit der Mitte des 18. cap. des 4. Buches (445a) beginnt nun der zweite und letzte Hauptteil, nämlich die Frage, ob man bei gewissenhafter Ausübung der Gerechtigkeit auch seinen Vorteil findet, möge man dabei nun erkannt oder verkannt werden; oder ob man ihn eher durch die Ungerechtigkeit finde, wenn man sich nur nicht ertappen ließe. Diese zweite, zum Teil schon aus dem Gesagten beantwortete Hauptfrage des ganzen Werkes sucht nun Sokrates noch bestimmter auf die selbe Weise zu lösen, wie er die erste gelöst hat. So wie er das Wesen der Gerechtigkeit fand, indem er einerseits einen vollkommenen Staat, andererseits aber einen vollkommenen Menschen hinstellte, so will er auch nun beweisen, ob die Gerechtigkeit glücklich oder nicht glücklich sei, indem er wieder einerseits den vollkommenen oder gerechten Staat und den vollkommenen und gerechten Menschen hinstellt, andererseits die unvollkommenen und ungerechten Staaten und Menschen (denn das Vollkommene ist überall nur eines, vom Schlechten gibt es aber unzählige Abstufungen). Der vollkommene oder gerechte Staat und Mensch ist aber bereits aufgestellt; es müssen also nun zum Vergleich daneben die unvollkommenen und ungerechten gestellt werden. Da es von diesen aber eine unzählige Menge gibt, beschränkt sich Sokrates hinsichtlich der ungerechten Staaten auf die vier Hauptarten: die Timokratie, Oligarchie, Demokratie und despotische Tyrannei; und hinsichtlich der ungerechten Menschen auf die entsprechende gleiche Anzahl. Als sich Sokrates schon anschickt, diese vier Hauptarten von Ungerechtigkeit auszuführen, da wird er am Anfang des 5. Buches von Polemarchos und Adeimantos unterbrochen und aufgefordert, die oben flüchtig aufgestellten Verordnung von der Weiber- und Kindergemeinschaft näher zu erörtern und zu begründen, da sich diese so paradoxe Anordnung keineswegs von selbst verstehe, wie er glaube.
1. Exkurs:
Zwischen den ersten und zweiten Hauptteil unseres Werkes wird deswegen ein Exkurs eingeschoben:
- Die nähere Darstellung von den Ehen und der Kinderzucht des Soldaten- und Regentenstandes.
Mit seiner gewohnten Schüchternheit geht Sokrates an seine Aufgabe, indem er befürchtet, dass seine Ansicht hierüber sowohl hinsichtlich der Möglichkeit als auch ihres Vorteils keinen Glauben finden werde. Außerdem glaubt er, die Sache noch nicht gehörig durchdacht zu haben. Nach allseitiger Ermunterung fängt er dann mit der Lösung seiner Aufgabe an, indem er hier sich wieder von dem Gleichnis mit den Schäfer- und Hirtenhunden leiten lässt.
- Wie es nämlich nicht gegen die Natur ist, dass die Schäfer die weiblichen Hunde zu dem selben Geschäft gebrauchen wie die männlichen, so sollen auch die Weiber unserer Staatswächter und Hüter mit den Männern an den selben Geschäften teilnehmen; daher müssen sie auch die selbe wissenschaftliche und gymnastische Bildung und Erziehung erhalten und durch eine gleiche Auswahl ausgesucht werden.
Denjenigen, die es für besonders lächerlich halten, dass die Weiber mit den Männern entblößt gymnastische Übungen vornehmen sollen, wird entgegnet, dass die Hellenen ursprünglich, wie alle Barbaren, das Nackte für unehrbar hielten, sich aber nachher so daran gewöhnt hätten, dass sie das ängstliche Verhüllen de Körpers als ein Zeichen der Barbarei ansahen; dass ferner eigentlich nichts lächerlich sei als nur das Laster (cap.4). Anschließend beweist Sokrates , dass die Verordnung, gemeinschaftlich Geschäfte zu verrichten,
- möglich sei, weil die weibliche Natur zwar etwas schwächer sei, sich aber sonst von der männlichen nicht wesentlich unterscheide (cap.6), und
- für den Staat auch am vorteilhaftesten und vorzüglichsten sei (cap.7)
- Alle Hüter und ihre Helfer (Soldaten) sollen die auf die selbe Weise ausgewählten und gebildeten Weiber gemeinschaftlich nehmen und haben, und kein Weib soll für sich allein mit einem Mann zusammenwohnen. Ferner sollen auch die Kinder gemeinschaftlich sein, so dass die Eltern ihre eigenen Kinder und die Kinder ihre eigenen Eltern nicht kennen. Um diese Anordnung zu rechtfertigen, soll wieder ihre Möglichkeit und Vorteilhaftigkeit nachgewiesen werden.
- Die größte Vorteilhaftigkeit und Vorzüglichkeit dieser Anordnung wird erst cap. 14 erwiesen. Voraus geht (cap. 10). ihr Plan und ihre Einrichtung.
- Die Demonstration ihrer Möglichkeit folgt nach, weil sie hier teils schwer ist, teils weil sie eher mit dem Folgenden zusammenhängt. Aber in verstellter Furcht vor der Demonstration dieser Möglichkeit stellt sich Sokrates an, als wolle er sie verschwätzen, und gibt von cap.14-17 noch eine ziemliche Anzahl von Vorschriften, wie man die jungen Hüter und Hüterinnen des Staates für das Kriegswesen anleiten müsse. Indessen wird Sokrates cap.17 von Glaukon ernstlich ermahnt, mit der lang verschobenen Demonstration zu beginnen. Sokrates bemerkt nun zuvor noch, man dürfe nicht verlangen, dass ein in der Theorie aufgestelltes Ideal ganz in der Wirklichkeit erscheinen müsse, und behauptet sodann (cap.18), jene Möglichkeit sei doch gegeben, wenn einmal Philosophen die Staaten regierten, oder wenn deren Regenten philosophierten; zuvor würden weder die Staaten Heil und Befreiung von ihren Übeln erfahren, noch würde man den oben aufgestellten idealen Staat realisiert sehen, wenn nicht jenes Ereignis eingetreten sei.
Als hierauf alle Anwesenden diese Behauptung noch viel unglaublicher finden als die Möglichkeit, die er durch sie bedingen will, sucht sie Sokrates nun näher zu begründen,
- indem er eine Beschreibung der echten Philosophie hinstellt und den Unterschied zur unechten angibt. Jene beschäftigt sich mit der Erkenntnis des wahrhaft Seienden der Dinge, der intellektuellen Gesetze der Sinnenwelt oder der Ideen, während sich letztere nur mit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen abgibt und daher keine Einsicht und Wissenschaft, sondern nur eine unsichere Meinung gewährt (Ende 5. Buch)
- (6. Buch) indem er sodann die Eigenschaften aufzählt, die er von einem echten Philosophen verlangt, worauf ihm alle bei seinem Schluss beistimmen müssen, dass erstens solche befähigten Männer mit der theoretischen Einsicht auch praktische Gewandtheit verbinden können, und dass daher zweitens nur diese die Staaten regieren dürften (cap.3)
6. Buch:
Hierauf wendet ihm Adeimantos abermals ein: wenn Sokrates hier auch durch logische Kunst einen theoretischen Beweis für seine Behauptung aufgestellt habe, wogegen man nichts einwenden könne, so müsse man doch das Gegenteil glauben, wenn man in die Wirklichkeit schaue, die lehre,
- dass alle, die sich etwas mehr als für den gewöhnlichen Notbedarf und professionell mit der Philosophie abgeben, wenn nicht ganz verdorben, so doch überspannte Menschen würden;
- dass die ersten und größten Philosophen für Staatsgeschäfte ganz unbrauchbar würden.
Hiergegen zeigt nun Sokrates:
- Wenn die größten und berühmtesten Philosophen unbrauchbar seien, so sei daran nicht die Philosophie schuld, sondern der Unverstand des politischen Publikums (cap.5).
- nach den gegenwärtigen Verhältnissen sei es eine unbedingte Notwendigkeit, dass die meisten Zöglinge der wahren Philosophie verdorben seien, dass aber an dieser Verdorbenheit nichts weniger schuld sei als die Philosophie; denn aus dem bereits aufgestellten Ideal vom wahren Philosophen, an das hier (cap.6) noch einmal kurz erinnert wird, erhellt, dass die zur wahren Philosophie geeigneten Naturen ohnehin in höchst geringer Zahl geboren werden; so gehen diese größtenteils zu Grunde
- in Folge ihrer geistig edlen Natur selbst, weil in der ganzen Natur jedes Wesen desto mehr der Verderbnis ausgesetzt ist, je edler und vorzüglicher seine Natur ist;
- in Folge der sogenannten irdischen oder leiblichen Vorzüge, nämlich Reichtum, Schönheit, vornehme Geburt usw. Die das Verderben bewirkenden Einflüsse kommen teils und vorzüglich aus der Verdorbenheit des öffentlichen politischen Treibens, teils aus dem Unterricht der Sophisten, der nichts anderes ist als ein in wissenschaftliche Form gebrachter Reflex der verdorbenen öffentlichen politischen Volksmeinung. (cap.9).
- Wenn also die Philosophie ihrer ebenbürtigen, ohnehin schon wenigen Liebhaber beraubt werde, so drängten sich ihre unberufenen Liebhaber auf, die sie nicht wegen ihrer selbst suchen, sondern des Gewinns und der Ehre wegen, da die Philosophie trotz aller Verachtung doch noch mehr Ehre gebe als jede andere Profession. Hieraus sei leicht abzulesen, dass solche Philosophen von Profession sowohl durch ihre philosophischen Produkte als auch durch ihr Betragen ihr nichts als Schande machen und sie in den Augen des Volkes in einen bösen Ruf bringen müssten (cap.10).
- Demnach bleiben nur ganz wenige wahre philosophische Naturen übrig, und zwar nur solche, die entweder durch ein Wunder oder besonderen Zufall gerettet würden. Haben diese aber die Süße des spekulativen Lebens einmal gekostet, so wollen sie sich nicht wieder von ihm trennen und finden sich nicht bereit, ihr edles Leben nutzlos im politischen Treiben zu vergeuden (cap.11).
Nachdem Sokrates so alle Zweifel gegen die Behauptung beseitigt hat, wodurch er eben die Möglichkeit unserer idealen Staatsverfassung überhaupt und insbesondere die der Weiber- und Kindergemeinschaft bedingte, so zeigt er nun die Art und Weise der möglichen Verwirklichung.
Dazu ist erforderlich, dass die philosophischen Naturen in einem Staat erzogen werden, der von den jetzigen ganz verschieden ist, und dass die Philosophie auf eine ganz andere Weise getrieben wird als heutzutage; dann werde das gemeine Volk auch eine ganz andere Ansicht von der Philosophie bekommen (cap.14).
Die mögliche Verwirklichung unserer idealen Staatsverfassung überhaupt und insbesondere die der Bestimmungen über Ehen und Kindererziehung bei den (zwei) oberen Ständen beschränkt sich daher endlich auf den Fall, dass Fürstensöhne einmal mit philosophischen Anlagen geboren würden und dass sie dieselben mitten durch die oben erwähnten schädlichen Einflüsse retten und zur vollständigen Reife heranbilden.
Hat daher jene Verwirklichung allerdings ihre Schwierigkeiten, so liegt sie doch nicht im Bereich des Unmöglichen, d.h. sie ist möglich (cap.15).
2. Exkurs:
- Hieran knüpft sich nun die andere Episode oder der zweite Exkurs an, der sich um die Frage dreht, durch welche Bildungsmittel die besagten philosophischen Regenten erzielt werden sollen. Dieser Exkurs hängt nicht nur mit dem vorigen auf das engste zusammen, sondern bildet auch eine Ergänzung zu III 19-21, wo die Einsetzung der Staatsregenten schon zum Teil, aber, wie dort (cap.20) ausdrücklich bemerkt wird, nur flüchtig erörtert wurde, indem es sich dort nur darum handelte, einen Staat nah seinen gröbsten Umrissen hinzustellen, um darin (als dem Menschen im Großen) besser das Wesen der Gerechtigkeit sehen zu können. Jene Frage beantwortet nun Platon.
Nach einer kurzen Erinnerung an die schon III 15-17 geforderten körperlichen und geistigen Eigenschaften eines künftigen Regenten in seinem moralischen Staat macht er vor allem die Bemerkung, dass diese sich leider höchst selten in einem Individuum beisammen vorfinden, wohl aber unter verschiedenen Individuen zersplittert. Die geistreichen Menschen haben gewöhnlich einen wandelbaren moralischen Charakter, die starken zuverlässigen dagegen sind zu phlegmatisch und zu einer höheren wissenschaftlichen Bildung unfähig. Beide Eigenschaften muss aber einer unbedingt haben, wenn er ein Regent in unserem Staat werden will.
Die III 19-21 aus den Staatswächtern ausgewählten Kandidaten der Regierung müssen ihre Befähigung außer in den dort erwähnten Proben, die doch mehr körperlicher Art waren, auch noch durch eine wissenschaftliche beweisen, d.h. beim Unterricht in vielen wissenschaftlichen Disziplinen beobachtet werden, ob sie die wichtigsten (metaphysischen) Wahrheiten zu ertragen im Stande sind. Auf die Frage, was für Disziplinen oder Lehrgegenstände dies seien, macht Sokrates (von cap.16) zunächst die Bemerkung, dass die obige Theorie von der menschlichen Seele und die darauf gebaute Lehre von Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. (IV 11-18) zu kurz und nicht gründlich genug gewesen sei, wie damals schon bemerkt worden sei; sie gründlicher kennen zu lernen, gebe es, wie gleichfalls damals erwähnt, einen anderen, aber größeren und beschwerlicheren Weg, der auf jeden Fall von unseren künftigen Regenten, von denen so vieles abhänge, eingeschlagen werden müsse, nämlich den zur Erkenntnis der größten Wissenschaft, d.h. des eigentlichen Guten; denn ohne Erkenntnis des eigentlichen Guten ist alles Wissen und Treiben nutzlos und eitel, sowie die Ausübung der wahren Tugend und Gerechtigkeit unmöglich (cap.17).
Nach dieser Bemerkung und nach einer in cap.17 angestellten Kritik der beiden damaligen extremen Lehren vom höchsten Gut, wovon die eine (Aristippos) es im sinnlichen Vergnügen, die andere (Antisthenes) in der vernünftigen Einsicht erblickte, folgt der Rest des Exkurses in zwei Abschnitten:
- Platons eigene Lehre vom höchsten Gut, besonders in ihrem Verhältnis zur Welt und zur menschlichen Seele. Dieses Gute, das der metaphysische Kern nicht nur dieses Werkes, sondern der ganzen platonischen Philosophie ist, wird mit jenem, dem platonischen Sokrates eigentümlichen Sträuben und mit kurzer Erinnerung an die eben schon (Buch V) erwähnte und in anderen Werken Platons erörterte Unterscheidung zwischen sinnlich und vernünftig erkennbaren Objekten, so wie zwischen sinnlicher und intellegibler Erkenntnis unter dem Bild der Sonne dargestellt und erläutert (von cap.16 bis zum Ende des 6. Buches). Das Gute ist nämlich erstlich in der ideellen oder intellegiblen Welt gerade das, was die Sonne in der sichtbaren ist; ferner steht das Sein in der intellegiblen Welt zum Guten in der Selben Beziehung, wie das Sein der sichtbaren Welt zur Sonne; drittens endlich ist die Vernunft im Intellegiblen das, was das Auge im sichtbaren ist. Wie nämlich die Sonne in dem Reich des Sichtbaren nicht nur die Ursache alles Lebens ist, sondern auch die Bedingung dafür, dass das Auge sehen kann und die sichtbaren Dinge gesehen werden können, so ist auch das Gute nicht nur die Quelle alles Seins, sondern auch die Bedingung dafür, dass die Vernunft erkennen und das wahre Sein der Ideen erkannt werden kann. Wie sich uns ferner die sichtbare Welt unter zwei Gestalten zeigt, nämlich erstlich als Bilder von Gegenständen, d.h. als Schatten und Spiegelungen in Spiegelflächen, und zweitens als wirklich reelle Gegenstände, so zeigt sich uns die Welt des intellegiblen Seins erstens als allgemeine Formen des wirklich Seienden und zweitens als reines Sein; drittens endlich: so wie das Auge und der Gesichtssinn etwas Sonnenartiges, aber doch selbst keine Sonne ist, so ist auch die Vernunft und die wissenschaftliche Erkenntnis des Wahren (Wissenschaft) etwas Großartiges und etwas sehr Vortreffliches, aber das Gute selbst ist sie nicht, das alles an Hoheit überstrahlt.
- Also zerfällt das große Gebiet alles Seins in zwei große Hälften: erstens in das sichtbare und zweitens in das durch die Vernunft erkennbare Sein, und jede dieser Hälften zerfällt wieder in zwei (un)gleiche Teile oder Abschnitte, so dass wir vier Glieder bekommen: 1. Bilder, 2. wirkliche (sinnliche) Gegenstände, 3. (intellektuelle) allgemeine Seinsformen, 4. reines Sein. Diese stehen in Bezug auf die Realität und Wahrheit ihres Seins in einem proportionalen Verhältnis: Wie sich nämlich die Bilder zu ihren wirklichen Gegenständen verhalten, so verhalten sich die allgemeinen Seinsformen zu dem reinen sein; ferner: wie die Bilder (Schatten und Spiegelungen) sich zu ihren wirklichen Gegenständen verhalten, so verhält sich das ganze sichtbare Sein (d.h. Bilder und wirkliche sichtbare Gegenstände) zu dem ganzen durch die Vernunft erkennbaren Sein (d.h. allgemeine Seinsformen und reines Sein). -
Das selbe Wechselverhältnis findet nun auch bei den Wirkungen des Schauens auf jene vier Arten von Sein statt: 1. Das Schauen des Auges einerseits auf die Bilder bewirkt einen Schein von Wahrheit, d.h. Wahrscheinlichkeit, 2. auf die wirklichen Gegenstände gerichtet bewirkt es zuverlässiges Zutrauen auf den Bericht dieses Sinnes, d.h. Glauben; 3. das Schauen der Vernunft dagegen bewirkt in seiner Richtung auf die allgemeinen Seinsformen (d.h. als Mathematik) nur eine Verstandeseinsicht, 4. in der Richtung aber auf das reine Sein, bewirkt es Vernunfteinsicht. Diese beiden Richtungen unterscheiden sich dadurch, dass die Vernunft bei der ersteren sich zu ihrer Demonstration noch sinnlicher Formen bedienen muss, von unerwiesenen Voraussetzungen ausgeht und nur auf die logisch intuitive Demonstration eines bestimmten Zieles hineilt, während sie sich bei der letzteren aller sinnlicher Anschauungen entledigt, auf keine unerwiesenen Behauptungen baut und das reine Sein und das Wahre bloß mit Hilfe reiner Begriffe logisch diskursiv demonstriert. Wie Wahrscheinlichkeit sich zu Glauben verhält, so verhält sich Verstandeseinsicht zu Vernunfteinsicht, und die Klarheit dieser vier Seelenzustände verhält sich ebenso wie die Realität der vier Arten von Objekten, durch deren Betrachtung sie gewonnen werden. Wahrscheinlichkeit und Glauben werden unter dem allgemeinen Namen Meinung (bloß empirische Erkenntnis), Verstandes- und Vernunfteinsicht aber unter dem allgemeinen Begriff rationale oder Vernunfterkenntnis begriffen; und die Meinung steht zu der rationalen Erkenntnis in dem selben Verhältnis, in dem Wahrscheinlichkeit zum Glauben steht.
7. Buch:
-
Nach Darstellung der Lehre von dem Guten und dessen Verhältnis zur Welt und zum Menschen, die das eigentliche Objekt der philosophisch wissenschaftlichen Bildung unserer künftigen Regenten ist, beginnt nun (mit dem Anfang des 7. Buches) diese Bildung selbst (und bildet bis zum Ende des Buches den zweiten Abschnitt des 2. Exkurses).
Auch diese Bildungsweise, die einen theoretischen und einen praktischen Teil hat, wird durch ein Bild erläutert, das mit jenen vorhergehenden der Sonne und der Linie verwandt und gewissermaßen ihre Fortsetzung ist. Unsere oben (im 3. Buch) ausgewählten Regierungskandidaten gleichen, wie alle Menschen, bevor sie in die höheren Wahrheiten der echten Philosophie eingeweiht sind, Gefangenen, die in einem unterirdischen Kerker von folgender Art eingeschmiedet sind:
- abcd - Kerker
- bc - Wand, auf die die Schatten der auf dem Querweg (hi) vorbeigetragenen Gegenstände projiziert werden
- ad - Offene Wand im Rücken der Gefangenen und Beginn des Aufstiegs
- e - Höhlenausgang in die Oberwelt
- o - Feuer als Lichtquelle
- hi - Querweg auf dem Menschen Gegenstände tragen
- kl - Mauer zur Abdeckung der Menschen
Man denke sich einen tief in der Erde gelegenen quadratförmigen Kerker
abcd; unsere Gefangenen sitzen darin nun so gefesselt, dass sie nur die Wand
bc anschauen und weder rechts noch links ihren Kopf umdrehen können. Die sich ihnen im Rücken befindende Seite
ad muss man sich dann in ihrer ganzen Länge und Höhe als die einzige Öffnung dieses Kerkers denken, die sich immer mehr verengt und immer steiler nach oben geht, bis sie etwa in Form einer Kelleröffnung, durch die ein Mensch noch gebückt gehen kann, bei
e in die Oberwelt führt. In diesem steilen Gang nach oben denke man sich ferner, etwa in der Richtung fg, ein Licht oder Feuer
o, so dass durch dieses von fern und obenher die Wand bc beleuchtet wird. Zwischen diesem Feuer und den Gefangenen befindet sich, aber höher als sie sitzen, etwa in der Richtung hi ein Querweg, auf dem Menschen Bildnisse von Menschen, Tieren usw. hintragen, indem, wie natürlich, einige sprechen, andere schweigen. Neben diesem Weg führt sich auf der Seite zu den Gefangenen eine Mauer
kl hin, die die Höhe eines Menschen hat und bewirkt, dass die Gefangenen an der Wand
bc nur die Schatten sehen können, die von den auf dem Weg hi getragenen Bildern und Gerätschaften geworfen werden, nicht aber die Schatten der Träger selbst.
Einen Gefangenen nun von dieser Art, der natürlich die an der Wand bc vorüberschwebenden Schatten jener Bilder für wirkliche Gegenstände hält, darf man nicht so von seinem Wahn heilen wollen, dass man ihn entfesselt und nötigt, plötzlich aufzustehen, herumzugehen und in das Höhlenlicht zu schauen, oder dass man ihn sogar mit Gewalt aus dem unterirdischen Kerker den steilen Weg hinauf in das Licht der Sonne bringt; denn so würde er vor lauter Blendung nichts sehen können und sogar in seinem Wahn bestärkt werden, die Schatten in seiner Höhle hätten mehr Realität als die Dinge, die man ihm als die eigentlichen Realitäten vorweist. Man muss vielmehr so mit ihm verfahren, wenn man ihn daran gewöhnen will, in der Oberwelt die Sonne und die von ihr erhaltenen und beschienenen Gegenstände anzuschauen:
- er muss die Schatten der Dinge und dann ihre Spiegelungen im Wasser betrachten lernen;
- dann muss er angeleitet werden, seinen Blick nach den höheren Regionen zu wenden und bei Nacht die Himmelskörper, Sterne, Mond usw. anzuschauen; und endlich am hellen Tag die Sonne selbst und das von ihr erhaltene und beschienene Reich betrachten; dann wird er von selbst zu dem Schluss gelangen, dass die Sonne im Bereich des Sichtbaren das Prinzip aller Ordnung und alles Lebens ist.
Wenn ein solcher Mensch nun an seine ehemaligen Mitgefangenen denkt, wird er sich nunmehr über seine Veränderung glücklich preisen, jene aber bedauern; auch wird er sie über die im Schattenreich üblichen Belohnungen und Ämter nicht beneiden und um keinen Preis ein solches Leben mehr führen wollen. Wenn er dann wieder in jene Schattenwelt käme und mit seinen alten Mitgefangenen in der Erkenntnis und Behandlung der Schattendinge wetteifern sollte, während sich seine an das klare Licht gewöhnten Augen noch nicht zurecht gefunden hätten, so würde er anfangs unter ihnen ein großes Gelächter erregen, und sie würden von ihm sagen, der Mensch habe deshalb seine Sehkraft verloren, weil er an die Oberwelt gegangen sei. Und wenn er sich sogar unterstände, sie zu entfesseln und ihnen die selbe Aufklärung zu verschaffen, so würden sie ihn wie einen Feind behandeln (cap.3).
Hierauf folgt nun die Anwendung und Auslegung dieses Bildes. Das Leben in dem unterirdischen und höhlenartigen Kerker ist unser Leben auf Erden; die hin- und hergetragenen Bilder und ihre an der Wand erscheinenden Schatten bedeuten unsere sichtbare Welt, das leuchtende Höhlenfeuer die sichtbare Sonne; dagegen bedeutet das Hinaufsteigen und Beschauen der Oberwelt das methodische Vernunfterkennen, so wie diese das Reich des Intellegiblen darstellt. Wenn daher unsere künftigen Staatsregenten das durch die Vernunft Erkennbare (ideale) Reich und die Sonne desselben, das Gute, d.h. das oberste Prinzip alles Seins und aller Ordnung, kennen lernen wollen (was ihnen unerlässlich ist, da sie ohne deren Erkenntnis weder ihr eigenes Leben noch das eines Staates heilsam einrichten und leiten können), so müssen sie die selben Stadien des allmählichen Schauens durchlaufen, die unser Höhlenbewohner durchlaufen hat.
- Sie müssen zuerst die Dinge der intellegiblen Welt im Wasser, als in einem sinnlichen Medium schauen, d.h. sie müssen ihren Geist zuerst durch solche wissenschaftliche Lehrgegenstände vorüben, dass seine Erkenntnis allmählich der irdischen Sinnenwelt ab- und zur Anschauung des höheren Seins zugewendet wird;
- Dann müssen sie ihren Blick daran gewöhnen, sich von der sinnlichen Region zu der intellegiblen zu erheben, d.h. mit reinen Begriffen zu verfahren oder sich in der Dialektik (theoretischen Philosophie) zu üben; und endlich am hellen Tag die Sonne zu betrachten, d.h. das eigentlich Gute zu erkennen suchen.
Alsdann müssen sie wieder zu ihren Mitgefangenen hinabgehen, sich dort wieder die gehörige Praxis erwerben, mit den Schattenbildern zu verkehren, und so von Theorie und Praxis unterstützt bessere Ansichten und Heil unter ihren Brüdern verbreiten. -
Nachdem erst noch bemerkt wurde, dass man sich hiernach gar nicht wundern dürfe, wenn viele Philosophen, die einmal jenen himmlischen Glanz geschaut hätten, nicht mehr in jene unterirdische Höhle hinabgehen, das heißt Staatsämter annehmen wollten; ferner dass nach dieser Theorie die Bildung einer Seele nicht in der Kunst bestehe, ihr etwas einzusetzen, was sie nicht hat, sondern vielmehr in der Kunst, das der Seele schon eigene Erkenntnisorgan aus dem Dunkel des sinnlich wahrnehmbaren Seins allmählich in die Helle des durch Vernunft erkennbaren Seins umzulenken, bis sie dessen hellste Region, die Idee des Guten, schaut.
Nachdem noch gezeigt wurde, dass man unseren so gebildeten Philosophen nach der Schau des Guten mit Recht zumuten könne, wieder in die irdische Höhlenwelt hinabzusteigen und danach sowohl den Staat als auch ihr eigenes Leben einzurichten, beginnt dann (von cap.6) die Beantwortung der Frage, die schon Ende VI 16 aufgeworfen wurde, welches nämlich die wissenschaftlichen Gegenstände seien, in denen unsere Regierungskandidaten zusätzlich zu ihren physischen Fähigkeiten auch noch geprüft werden sollten; hiermit beginnt auch zugleich die eigentlich (philosophisch) theoretische und praktische Bildungsweise nach den oben angegebenen zwei Stadien.
- die Eigenschaft, das Auge der Seele von dem sinnlich Wahrnehmbaren ab- und der Helle des Intellegiblen zuzuwenden, so wie den praktischen Nutzen für die Kriegskunst, die ja doch unsere künftigen Regenten üben sollten (sie werden ja aus dem Kriegerstand gewählt), kann weder Gymnastik noch Musik im weitesten Wortsinn haben, sondern diese Eigenschaften sind nur bei den mathematischen Disziplinen zu finden; diese werden nun der Reihe nach abgehandelt, und bei einer jeden werden nicht nur die gedachten zwei Eigenschaften hervorgehoben, sondern es wird dabei auch der geistlose und allzu empirische Schlendrian gerügt, mit dem sie gewöhnlich bis dahin getrieben worden seien. Sie sind der Reihe nach: Arithmetik (cap.9), Stereometrie und Astronomie (cap.11), wovon aber erstere damals noch nicht existierte; Harmonik (bis Mitte cap.12);
- das Studium der Dialektik, ihr Verhältnis zum vorbereitenden Studium der Mathematik und das des Guten (cap.15).
Von cap.15 folgt alsdann Aufzählung der geistigen Eigenschaften, die diejenigen haben müssen, denen die genannten Wissenschaften erteilt werden sollen, so wie die Bestimmung der maßgeblichen Methode und des Alters, in welchem sie erteilt werden dürfen, damit sie der Philosophie nicht noch mehr Unehre bringen, sondern ihr vielmehr wieder zu ihrem verdienten guten Ruf verhelfen. Bis in das dreißigste Jahr müssen sie im mathematischen Vorstudium geübt werden; wer darin die gehörige Probe bestanden hat, wird dann bis zum fünfunddreißigsten Jahr zum Studium der Dialektik (theoretischen Philosophie) zugelassen. Sodann müssen sie sich fünfzehn Jahre (35-50) lang durch Verwaltung von Kriegs- und Staatsämtern die gehörige praktische Ausbildung verschaffen. Uns so gelangen sie endlich in ihrem fünfzigsten Jahr zum Ziel ihrer theoretischen und praktischen Vorbereitung und gelangen zur Regierung des Staates, die sie nach dem Vorbild des Gutes ausüben, und zwar so, dass sie der Reihe nach abwechselnd die Last der Staatsregierung tragen, die übrige Zeit aber zur Fortsetzung ihrer Studien und zur Heranbildung ähnlicher Staatsmänner verwenden. (Ende des 7. Buches)
Ende der beiden Exkurse