Mythos als Weltdeutung
Philosophie
(Reflexion auf die Voraussetzungen des Gegebenen)
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a)
material (inhaltlich):
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Frage nach
dem. was (um uns) ist [Sein]: Welt (Himmel / Erde), Menschen.
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Frage, woher
alles kommt [Werden, Bewegung; Kraft, Kausalität,
Finalität]. Diese Fragen werden mit anthropomorphen
Vorstellungen beantwortet: Personifizierung (Götter
als übermächtige Menschen), Zeugung, handwerkliches
Schaffen.
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Frage, woher
alles kommt, in stofflichem Sinn [Materie, Stoff]: Anfänglich
gilt auch der Stoff als göttlich, belebt (Apsû =
Wasser) oder als getöteter Gott. Im entwickelteren
Mythos erfolgt eine Trennung von Gott und Herrschaftsbereich
(Ea ist Herr über das Wasser).
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Aspekt des
Seins: Die Vermeidung eines "regressus ad infinitum"
macht erforderlich, dass die Welt aus dem Nichtsein entstanden
ist. Aber wie sollte aus dem Nichtsein etwas entstehen
können? [Der Begriff des Chaos vereinigt beide Aspekte
in sich].
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Aspekt der
Zeit: Die "Zeit" vor der Weltentstehung kann
weder als Zeitpunkt noch als Zeitdauer gedacht werden.
Beides würde schon eine gestaltete Struktur voraussetzen.
[Auch moderne Theorien, wie z.B. die Urknalltheorie, lassen
die Zeit in einem singulären Ereignis mitentstehen].
b) formal (methodisch):
Mythos und Philosophie
bilden die Welt ab (Weltbild, Theorie), um sie zu verstehen,
zu deuten, zu erklären ("theoretische" Funktion)
[Dabei kann die erkenntnistheoretische Prämisse postuliert
werden, dass menschliches Erkennen (Wissenschaft) immer nur
"Modelle" der Wirklichkeit entwickeln kann (Theorien,
Paradigmen), nie aber die Wirklichkeit an sich (vgl.: St.
Hawking: Mein Standpunkt. Was ist Realität? (in: Die
Zeit 34/1993, S.26. Vorabdruck aus: Stephen W. Hawking: Einsteins
Traum. Expeditionen an die Grenzen der Raumzeit, Essays; Reinbek
(Rowohlt) 1993)].
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Mythos und
Philosophie wirken beide normierend auf das menschliche
Handeln zurück (praktische Funktion).
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Mythos und
Philosophie wollen in ihren Weltbildern das Allgemeingültige,
Grundlegende, Gesetzmäßige, Ewige. Metaphysische,
Transzendente zum Ausdruck bringen. Dies finden sie jeweils
durch Reduktion hinter dem Singulären und prozesshaft
Einmaligen; der Mythos durch Beschränkung auf den
wiederholenden Nachvollzug, die Philosophie eher durch
Abstraktion auf das Allgemeine.
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Mythos und
Philosophie (Philosophie allerdings nur bedingt) können
für die Gesellschaft integrative Bedeutung gewinnen
und insofern auch für politische Zwecke eingesetzt
werden (z.B.: Ideologie des römische Imperialismus;
Dialektischer- und Historischer Materialismus; Poppers
"Stückwerk-Technik" ("piecemeal engineering"))
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Beide erheben
einen universalen Anspruch.
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Beide haben "Passungscharakter".
Sie sind prinzipiell nicht verifizierbar bleiben aber
anerkannt, solange sie ihre Erklärungsfunktion ausreichend
erfüllen. Ansonsten gelten sie als überholt
(falsifiziert).
c) Divergenzen
in der Denkhaltung:
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Die "phantastische
Tätigkeit des antiken Geistes schaffte künstlerisch
par excellence. Nicht das Wie der wirklichen Welt
möglichst objektiv und exakt zu erfassen, sondern
subjektiven Phantasien und Erwartungen ästhetisch
anzupassen scheint das Ziel des Interesses gewesen zu
sein" (Jung [1], 162). Die (anthrnpomorphe oder theriomorphe)
Belebtheit der mythischen Naturvorstellung entspricht
der kindlichen Denkweise.
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Wie im Traum (s.o.) verläuft
das mythische Denken nicht linear progressiv
(von der Wahrnehmung zur inneren Vorstellung). eindeutig,
logisch, streng nach den Gesetzen der Kausalität,
sondern sprunghaft, regressiv (von der vorbewussten
inneren Vorstellung zur anschaulichen Wahrnehmung). vieldeutig,
intuitiv assoziativ-analogisch. Wiederbelebung ursprünglicher
Wahrnehmungen und des infantilen Erinnerungsmaterials:
Die "Schlussmodi" des Traumes haben zugleich
assoziativ-analogischen und infantilen Charakter (Jung
[1]. 162f.).
d) Zusammenfassende
Stellungnahmen zur "Bipolarität" unseres Bewusstseins:
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"Als Sammelbecken von
Werten, die in unserer Kultur aktiv sind, eignen sich
diese beiden Ordnungen (sc. Mythos und Rationalität)
jedoch nicht zur Synthese, wenn wir auch gezwungen sind,
uns in beiden zugleich zu bewegen, wenn wir mithin, ob
wir es wollen oder nicht, zwei Herren zugleich dienen
müssen. Keine rationale Argumentation vermag, zwingende
Gründe anzuführen, die uns die eine oder die
andere Ordnung eindeutig als einen Schatten bezeichnen
heißen, der die andere, "wahre" Wirklichkeit
verdecke; keine erlaubt es zu entscheiden, welche dieser
beiden Ordnungen, die mythische oder die phänomenale,
die reale Welt bilde und welche hingegen eine Ausgeburt
der Imagination sei." (Kolakowski 167f., zitiert
nach Klowski 39f.)
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Eine Verdrängung des Mythos
durch den Logos ist grundsätzlich nicht möglich,
höchstens eine Gewichtsverschiebung. da die Menschen
weder aus dem Mythos allein noch aus dem Logos allein
zu leben vermögen. Ohne Mythen, ohne Bilder, die
uns erfüllen, können wir nicht existieren. Wir
brauchen glanzvolle Bilder etwa aus unserer eigenen Kindheit
und Jugend, um schwere Stunden in unserem Leben überstehen
zu können. Wir brauchen die Bilder der Dichter als
den Grund, aus dem uns Lebenssinn zuwächst. Wir brauchen
Bilder, aus denen uns Glaubensinhalte aufleuchten, die
kein Logos zu fundieren vermag. Andererseits bedürfen
wir des Logos als ordnendes, klärendes und kritisches
Instrument, das auch den Bildern, den Mythen kritisch
zu Leibe rückt." (Klowski 39)
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"Die moderne Psychologie
hat den ausgesprochenen Vorteil, dass sie ein Gebiet psychischer
Phänomene praktisch kennengelernt hat, welches zweifellos
den Mutterboden aller Mythologie darstellt, nämlich
die Träume, Traumvisionen, Phantasien und Wahnideen".
(Jung [2], 168)
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in den Tiefenschichten der
Seele sind die mythischen Bilder auch für den modernen,
emanzipierten Menschen (nach C.G.Jung im Sinne von archetypischen
Prägungen) noch kraftvolle Wirklichkeit.
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"Durch die Erforschung
der Produkte des Unbewussten ergeben sich... erkennbare
Andeutungen archetypischer Strukturen, die mit den mythischen
Motiven in eins fallen, und darunter gewisse Typen, die
den Namen Dominanten verdienen: Es handelt sich
um Archetypen wie Anima, Animus, alter Mann, Hexe, Schatten,
Erdmutter etc. und die Ordnungsdominanten des Selbst,
des Kreises und der Quaternität, resp. der vier "Funktionen"
oder der Aspekte des Selbst oder des Bewusstseins. Es
ist ohne weiteres ersichtlich, dass die Kenntnis dieser
Typen die Mythenbildung erheblich erleichtert und zugleich
auf den Boden stellt, auf den sie gehört, nämlich
auf die Grundlage der Psyche" (Jung [2], 168f.).
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Umfassende Emanzipation ist
nur so zu erreichen, dass "das Ich in gebührender
Weise über das Es und das Uber-Ich herrscht und zugleich
das Es und das Uber-Ich in angemessenem Umfang zu Worte
kommen." (Klowski. 14).
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Sententiae excerptae: Lat. zu "Ethik" und "Mythos" Literatur: zu "Ethik" und "Mythos"4385
Bouillard, Henri
Transzendenz und Gott des Glaubens
in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, TBd.1, (Herder) Freiburg, Basel, Wien, 1981
4386
Gadamer, H.-G./ Fries, H.
Mythos und Wissenschaft
in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, TBd.2, (Herder) Freiburg, Basel, Wien, 1981
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