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Humanismus bei M.Heidegger

 

1.) Einleitung: Heideggers Spätphilosophie

K.Wuchterl, in: Grundkurs; Geschichte der Philosophie, Bern/Stuttgart (Haupt/UTB) 1986, S. 242f

a) Die Kehre

In seinem neuen Versuch ersetzt Heidegger die transzendentale Fundamentalontologie durch ein „An-Denken des Seins". Denken und Verstehen werden nicht mehr als Leistungen des Menschen, sondern als Ereignisse des Seins gedeutet; nicht der Mensch denkt, sondern Es denkt im Menschen. Was wir als bewußtes Erleben deuten, ist in Wirklichkeit Ereignis des Seins, „Seinsgeschichte". Über das Sein läßt sich nichts mehr aussagen; es ist einfach es selbst, das Heile. Es offenbart sich dem Menschen, der in der „Lichtung des Seins" steht, genauer in das Sein hinaussteht, ek-sistiert. Das beängstigende In-der-Welt-Sein wird zum „Haus des Seins", in dem uns das uns Zukommende zugeschickt wird („Seins-Geschick"). Aus der Freiheit des Sein-Könnens, wird ein dankendes Sein-Lassen. Es geht um das Offenbarwerden, um die Unverborgenheit (=Wahrheit!) des Seins, die sich als geschichtliche Faktizität, nicht als kritische Einsicht in immer geltende Wahrheiten zeigt.

Die Kehre drückt sich auch im Wandel der Terminologie aus.

Dasein ist nicht mehr ein spezifisch Seiendes, dem es um sein Sein geht, sondern es ist das „Da" des Seins, die Lichtung des Seins.

Existenz bedeutet nicht mehr die Eigentlichkeit eines auf sich gestellten Seins zum Tode, sondern „ekstatisches Wohnen" im „Haus des Seins", eine vom Sein ereignete Ek-sistenz.

Angst und Sorge weichen der Stimmung des „Dankes" für die „Huld", Sein begegnen zu können. Aus der Stimmung des Daseins wird die „Stimme des Seins".

Die Geschichte gründet nicht mehr im Zeitmodus des endlichen Daseins, sondern bedeutet Unterwegssein in der Erwartung der endgültigen „Parusie des Seins". Wahrheit ist Wahrheitsgeschehen einer Seinsgeschichte, „Eschatologie des Seins".

Aus dem Sein, um dessen Sinnbestimmung sich die Frühphilosophie Heideggers bemühte, wird ein geheimnisvolles SEYN, dessen Sinn nicht durch Zeitanalysen verständlich gemacht werden kann, sondern das sich wie ein Gott verbirgt und offenbart und dessen Tiefe nur in der Dichtung erahnt werden kann.

b) Der philosophiegeschichtliche Anspruch Heideggers

Heidegger hatte schon in „Sein und Zeit" die These aufgestellt, die gesamte Metaphysik seit Platon sei von der „Seinsvergessenheit" geprägt und daher gelte es, wieder von vorne, nämlich bei den Vorsokratikern, anzufangen, um den eigentlichen Sinn von Sein erfassen zu können. Dieser Anspruch verschärfte sich noch weiter. Die gesamte Geschichte der abendländischen Philosophie sei ein Irrweg gewesen und das Geschick des Abendlandes hänge von der Klärung der Seinsfrage ab.

Den neuen Weg beschrieb Heidegger vor allem durch Abgrenzungen: weder in der Liebe zur Weisheit, noch in der aristotelischen Theoria oder gar in der östlichen Meditation wird der Anspruch des Seins erfüllt; am allerwenigsten aber in der Wissenschaft und Technik. Letztere charakterisierte Heidegger als „Gestell", in welchem die Seinswahrheit durch Hinstellen, Verfügen und Berechnen verfehlt werde.

Wenn sich Heideggers Seinsverständnis so fundamental von dem aller früheren Generationen unterscheidet, dann kann es nicht wundern, dass die überlieferte Begrifflichkeit nicht ausreichte, um die neue Lehre adäquat auszudrücken. Deshalb musste sich Heidegger oft darauf beschränken zu sagen, was das Sein nicht ist. Positive Aussageversuche führten zu eigenwilligen Sprachprägungen, die nur ahnen lassen, was sie besagen sollen. Trotzdem hat sich eine Art heideggersches Sprachspiel - der „Jargon der Eigentlichkeit", wie es Adorno nannte, herausgebildet. Aber nur wer der religiösen Gedankenwelt nahesteht, wird sich in Heideggers „Geviert von Erde und Himmel, Göttlichem und Sterblichem" zurechtfinden. Er wird in der ontisch-ontologischen Differenz von Sein und Seiendem die christliche Differenz vom ewigen Schöpfer und endlichem Geschöpf, im SEYN das schlechthin Andere und im Vertrauen auf die Huld des Seins den Glauben des Religiösen wiederentdecken, auch wenn sich Heidegger gegen solche Analogien gewehrt hat. Eigentlich hätte der Philosoph durch die „Kehre" zum schweigenden Mystiker werden müssen. Jedenfalls führte der Weg Heideggers nach der „Kehre" von der kritischen phänomenologischen Daseinsanalyse zur Selbstauflösung der Philosophie, nach der nur noch die Dichter sprechen können.

 

2.) M.Heidegger: Über den Humanismus. 

Brief an J.Beaufret, Paris; Bern (Francke) 1954

(56...) Sie fragen: Comment redonner un sens au mot „Humanisme"? Diese Frage kommt aus der Absicht, das Wort „Humanismus" festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig ist. Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug? Man mißtraut zwar schon lange den „-ismen". Aber der Markt des öffentlichen Meinens verlangt stets neue. Man ist immer wieder bereit, diesen Bedarf zu decken. Auch die Namen wie „Logik", „Ethik", „Physik" kommen erst auf, sobald das ursprüngliche Denken zu Ende geht. Die Griechen haben in ihrer großen Zeit ohne solche Titel gedacht. Nicht einmal „Philosophie" nannten sie das Denken. Dieses geht zu Ende, wenn es aus seinem Element weicht. Das Element ist das, aus dem her das Denken vermag, ein Denken zu sein. Das Element ist das eigentlich Vermögende: das Vermögen. Es nimmt sich des Denkens an und bringt es in dessen Wesen. Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des (57) Seins. [...]

(58...) Wenn das Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element weicht, ersetzt es diesen Verlust dadurch, dass es sich als tecnh, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft. Die Philosophie wird allgemein zu einer Technik des Erklärens aus obersten Ursachen. Man denkt nicht mehr, sondern beschäftigt sich mit „Philosophie". Im Wettbewerb solcher Beschäftigungen bieten sich diese dann öffentlich als ein ...ismus an und versuchen sich zu überbieten. Die Herrschaft solcher Titel ist nicht zufällig. Sie beruht, und das vor allem in der Neuzeit, auf der eigentümlichen Diktatur der Öffentlichkeit. [...]

(59...) Wenn jedoch die Wahrheit des Seins dem Denken denk-würdig geworden ist, muss auch die Besinnung auf das Wesen der Sprache einen anderen Rang erlangen. Sie kann nicht mehr bloß Sprachphilosophie sein. [...](60...) Die Sprache verweigert uns noch ihr Wesen: dass sie das Haus der Wahrheit des Seins ist. Die Sprache überläßt sich vielmehr unserem bloßen Wollen und Betreiben als ein Instrument der Herrschaft über das Seiende. Dieses selbst erscheint als das Wirkliche im Gewirk von Ursache und Wirkung. [...] Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muss er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. Er muss in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muss, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen, auf die Gefahr, dass er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. (61) Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt. Liegt aber nicht in diesem Anspruch an den Menschen, liegt nicht in dem Versuch, den Menschen für diesen Anspruch bereit zu machen, eine Bemühung um den Menschen? Wohin anders geht „die Sorge" als in die Richtung, den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen? Was bedeutet dies anderes als, dass der Mensch (homo) menschlich (humanus) werde? So bleibt doch die Humanitas das Anliegen eines solchen Denkens; denn das ist Humanismus: Sinnen und Sorgen, dass der Mensch menschlich sei und nicht un-menschlich, „inhuman", das heißt, außerhalb seines Wesens. Doch worin besteht die Menschlichkeit des Menschen? Sie ruht in seinem Wesen.

Aber woher bestimmt sich das Wesen des Menschen? Marx fordert, dass der „menschliche Mensch" erkannt und anerkannt werde. Er findet diesen in der „Gesellschaft". Der „gesellschaftliche" Mensch ist ihm der „natürliche" Mensch. In der „Gesellschaft" wird die „Natur" des Menschen, das heißt das Ganze der „natürlichen Bedürfnisse" (Nahrung, Kleidung, Fortpflanzung, wirtschaftliches Auskommen) gleichmäßig gesichert. Der Christ sieht die Menschlichkeit des Menschen, die Humanität des Homo, aus der Abgrenzung gegen die Deitas. Er ist heilsgeschichtlich Mensch als „Kind Gottes", das den Anspruch des Vaters in Christus vernimmt und übernimmt. Der Mensch ist nicht von dieser Welt, insofern die „Welt", (62) theoretisch platonisch gedacht, nur ein vorübergehender Durchgang zum Jenseits bleibt.

Ausdrücklich unter ihrem Namen wird die Humanitas zum ersten Mal bedacht und erstrebt in der Zeit der römischen Republik. Der homo humanus setzt sich dem homo barbarus entgegen. Der homo humanus ist der Römer, der die römische virtus erhöht und veredelt durch die „Einverleibung" der von den Griechen übernommenen paideia. Die Griechen sind die Griechen des Spätgriechentums, deren Bildung in den Philosophenschulen gelehrt wurde. Sie betrifft die eruditio und institutio in bonas artes. Die so verstandene paideia wird durch „humanitas" übersetzt. Die eigentliche romanitas des homo romanus besteht in solcher humanitas. In Rom begegnen wir dem ersten Humanismus. [...]

(63...) Versteht man unter Humanismus allgemein die Bemühung darum, dass der Mensch frei werde für seine Menschlichkeit und darin seine Würde finde, dann ist je nach der Auffassung der „Freiheit" und der „Natur" des Menschen der Humanismus verschieden. Insgleichen unterscheiden sich die Wege zu seiner Verwirklichung. Der Humanismus von Marx bedarf keines Rückgangs zur Antike, ebensowenig der Humanismus, als welchen Sartre den Existentialismus begreift. In dem genannten weiten Sinne ist auch das Christentum ein Humanismus, insofern nach seiner Lehre alles auf das Seelenheil (salus aeterna) des Menschen ankommt und die Geschichte der Menschheit im Rahmen der Heilsgeschichte erscheint. So verschieden diese Arten des Humanismus nach Ziel und Grund, nach der Art und den Mitteln der jeweiligen Verwirklichung, nach der Form seiner Lehre sein mögen, sie kommen doch darin überein, dass die humanitas des homo humanus aus dem Hinblick auf eine schon feststehende Auslegung der Natur, der Geschichte, der Welt, des Weltgrundes das heißt des Seienden im Ganzen bestimmt wird.

Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphy- (64) sik, oder er macht sich selber zum Grund einer solchen. Jede Bestimmung des Wesens des Menschen, die schon die Auslegung des Seienden ohne die Frage nach der Wahrheit des Seins voraussetzt, sei es mit Wissen, sei es ohne Wissen, ist metaphysisch. [...] Der Humanismus fragt bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen nicht nur nicht nach dem Bezug des Seins zum Menschenwesen. Der Humanismus verhindert sogar diese Frage, da er sie auf Grund seiner Herkunft aus der Metaphysik weder kennt noch versteht.

(65...) Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht den Unterschied beider [...]. Die Metaphysik fragt nicht nach der Wahrheit des Seins selbst. Sie fragt daher auch nie, in welcher Weise das Wesen des Menschen zur Wahrheit des Seins gehört. Diese Frage hat die Metaphysik nicht nur bisher nicht gestellt. Diese Frage ist der Metaphysik als Metaphysik unzugänglich. Noch wartet das Sein, dass Es selbst dem Menschen denkwürdig werde.

(70...) Ek-sistenz, ekstatisch gedacht, deckt sich weder inhaltlich noch der Form nach mit der existentia. Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hinaus-stehen in die Wahrheit des Seins. Existentia (existence) meint dagegen actualitas, Wirklichkeit im Unterschied zur bloßen Möglichkeit als Idee. Ek-sistenz nennt die Bestimmung dessen, was der Mensch im Geschick der Wahrheit ist. Existentia bleibt der Name für die Verwirklichung dessen, was etwas, in seiner Idee erscheinend, ist. Der Satz: „Der Mensch ek-sistiert" antwortet nicht auf die Frage, ob der Mensch wirklich sei oder (71) nicht, sondern antwortet auf die Frage nach dem Wesen des Menschen. Diese Frage pflegen wir gleich ungemäß zu stellen, ob wir fragen, was der Mensch sei, oder ob wir fragen, wer der Mensch sei. Denn im Wer? oder Was? halten wir schon nach einem Personhaften oder nach einem Gegenstand Ausschau. Allein das Personenhafte verfehlt und verbaut zugleich das Wesende der seinsgeschichtlichen Eksistenz nicht weniger als das Gegenständliche. Mit Bedacht schreibt daher der angeführte Satz im „Sein und Zeit" (S. 42) das Wort „Wesen" im Anführungszeichen. Das deutet an, dass sich jetzt das „Wesen" weder aus dem esse essentiae, noch aus dem esse existentiae, sondern aus dem Ek-statischen des Daseins bestimmt. Als der Ek-sistierende steht der Mensch das Da-sein aus, indem er das Da als die Lichtung des Seins in „die Sorge" nimmt. Das Da-sein selbst aber ist als das „geworfene". Es west im Wurf des Seins als des schickend Geschicklichen.

(72...) Sartre spricht dagegen den Grundsatz des Existentialismus so aus: Die Existenz geht der Essenz voran. Er nimmt dabei existentia und essentia im Sinne der Metaphysik, die seit Plato sagt; die essentia geht der existentia voraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz. Als dieser Satz verharrt er mit der Metaphysik in der Vergessenheit der Wahrheit des Seins. Denn mag auch die Philosophie das Verhältnis von essentia und existentia im Sinne der Kontro- (73) versen des Mittelalters oder im Sinne von Leibniz oder anders bestimmen, vor all dem bleibt doch erst zu fragen, aus welchem Seinsgrund diese Unterscheidung im Sein als esse essentiae und esse existentiae vor das Denken gelangt. Zu bedenken bleibt, weshalb die Frage nach diesem Seinsgeschick niemals gefragt wurde und weshalb sie nie gedacht werden konnte. Oder ist dies, dass es so mit der Unterscheidung von essentia und existentia steht, kein Zeichen der Vergessenheit des Seins? Wir dürfen vermuten, dass dieses Geschick nicht auf einem bloßen Versäumnis des menschlichen Denkens beruht, geschweige denn auf einer geringeren Fähigkeit des frühen abendländischen Denkens. Die in ihrer Wesensherkunft verborgene Unterscheidung von essentia (Wesenheit) und existentia (Wirklichkeit) durchherrscht das Geschick der abendländischen und der gesammten europäisch bestimmten Geschichte.

Der Hauptsatz von Sartre über den Vorrang der existentia vor der essentia rechtfertigt indessen den Namen „Existentialismus" als einen dieser Philosophie gemäßen Titel. Aber der Hauptsatz des „Existentialismus" hat mit jenem Satz in „Sein und Zeit" nicht das geringste gemeinsam; [...].

(74...) Damit wir Heutigen jedoch in die Dimension der Wahrheit des Seins gelangen um sie bedenken zu können, sind wir daran gehalten, erst einmal deutlich zu machen, wie das Sein den Menschen angeht und wie es ihn in den Anspruch nimmt. Solche Wesenserfahrung geschieht uns, wenn uns aufgeht, dass der Mensch ist, indem er existiert. Sagen wir dies zunächst in der Sprache der Überlieferung, dann heißt das: Die Ek-sistenz des Menschen ist seine Substanz [...]. Allein „Substanz" ist, seinsgeschichtlich gedacht, bereits die verdeckende Übersetzung von ousia, welches Wort die Anwesenheit des Abwesenden nennt und meistens zugleich aus einer rätselhaften Zweideutigkeit das Abwesende selber meint. Denken wir den metaphysischen Namen „Substanz" in diesem Sinne, [...] dann sagt der Satz „die ‘Substanz’ des Menschen ist die Ek-sistenz" nichts anderes als: die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen zum Sein anwest, ist das ekstatische Innestehen in der Wahrheit des Seins. Durch diese Wesensbestimmung des Menschen werden die humanistischen Auslegungen (75) des Menschen als animal rationale, als „Person", als geistiges seelisches leibliches Wesen nicht für falsch erklärt und nicht verworfen. Vielmehr ist der einzige Gedanke der, dass die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren. Insofern ist das Denken in „Sein und Zeit" gegen den Humanismus. Aber dieser Gegensatz bedeutet nicht, dass sich solches Denken auf die Gegenseite des Humanen schlägt und das Inhumane befürwortet, die Unmenschlichkeit verteidigt und die Würde des Menschen herabsetzt. Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt. Freilich beruht die Wesenshoheit des Menschen nicht darin, dass er die Substanz des Seienden als dessen „Subjekt" ist, um als der Machthaber des Seins das Seiendsein des Seienden in der allzulaut gerühmten „Objektivität" zergehen zu lassen.

Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins „geworfen", dass er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins. Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er das Schicksal seines Wesens findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat er als der Ek-sistierende die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirte des Seins. [...]

(93...) Sie fragen: Comment redonner un sens au mot „Humanisme"? „Auf welche Weise läßt sich dem Wort Humanismus ein Sinn zurückgeben?" Ihre Frage setzt nicht nur voraus, dass Sie das Wort „Humanismus" festhalten wollen, sondern sie enthält auch das Zugeständnis, dass dieses Wort seinen Sinn verloren hat.

Es hat ihn verloren durch die Einsicht, dass das Wesen des Humanismus metaphysisch ist und das heißt jetzt, dass die Metaphysik die Frage nach der Wahrheit des Seins nicht nur nicht stellt, sondern verbaut, insofern die Metaphysik in der Seinsvergessenheit verharrt. Allein eben das Denken, das zu dieser Einsicht in das fragwürdige Wesen des Humanismus führt, hat uns zugleich dahin gebracht, das Wesen des Menschen anfänglicher zu denken. Im Hinblick auf diese wesentlichere Humanitas des homo humanus ergibt sich die Möglichkeit, dem Wort Humanismus einen (94) geschichtlichen Sinn zurückzugeben, der älter ist, als sein historisch gerechnet ältester. [...] Ihm einen Sinn zurückgeben kann nur heißen: den Sinn des Wortes wiederbestimmen. Das verlangt, einmal, das Wesen des Menschen anfänglicher zu erfahren; zum anderen aber zu zeigen, inwiefern dieses Wesen in seiner Weise geschicklich wird. Das Wesen des Menschen beruht in der Ek-sistenz. Auf diese kommt es wesentlich, das heißt vom Sein selbst her, an, insofern das Sein den Menschen als den ek-sistierenden zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins in diese selbst ereignet. „Humanismus" bedeutet jetzt, falls wir uns entschließen, das Wort festzuhalten: das Wesen des Menschen ist für die Wahrheit des Seins wesentlich [...].

Soll man diesen „Humanismus", der gegen allen bisherigen Humanismus spricht, aber gleichwohl sich ganz und gar nicht zum Fürsprecher des Inhumanen macht, noch „Humanismus" nennen? Und das nur, um vielleicht durch die Teilnahme am Gebrauch des Titels in den herrschen- (95) den Strömungen, die im metaphysischen Subjektivismus ersticken und in der Seinsvergessenheit versunken sind, mitzuschwimmen? Oder soll das Denken wagen, durch einen offenen Widerstand gegen den „Humanismus" einen Anstoß zu wagen, der veranlassen könnte, erst einmal über die Humanitas des homo humanus stutzig zu werden? So könnte doch, wenn nicht der weltgeschichtliche Augenblick schon selbst dahin drängt, eine Besinnung erwachsen, die nicht nur auf den Menschen, sondern auf die „Natur" des Menschen, nicht nur auf die Natur, sondern anfänglicher noch auf die Dimension denkt, in der das Wesen des Menschen, vom Sein selbst her bestimmt, heimisch ist. Sollten wir nicht eher für einige Zeit noch die unumgänglichen Mißdeutungen ertragen und sie sich langsam abnutzen lassen, denen der Weg des Denkens im Element von Zeit und Sein bisher ausgesetzt ist? [...]

Weil gegen den „Humanismus" gesprochen wird, befürchtet man eine Verteidigung des In-humanen und eine Verherrlichung der barbarischen Brutalität. Denn was ist „logischer" als dies, dass dem, der den Humanismus verneint, nur die Bejahung der Unmenschlichkeit bleibt?

Weil gegen die „Logik" gesprochen wird, meint man, die Forderung sei erhoben, Daß der Strenge des Denkens abgesagt, statt ihrer die Willkür der Triebe und Gefühle (96) zur Herrschaft gebracht und so der „Irrationalismus" als das Wahre ausgerufen werde. Denn was ist „logischer" als dies, dass, wer gegen das Logische spricht, das Alogische verteidigt?

Weil gegen die „Werte" gesprochen wird, entsetzt man sich über eine Philosophie, die es angeblich wagt, die höchsten Güter der Menschheit der Mißachtung preiszugeben. Denn was ist „logischer" als dies, dass ein Denken, das die Werte leugnet, notwendig alles für wertlos ausgeben muss?

Weil gesagt wird, das Sein des Menschen bestehe im „In-der-Welt-sein", findet man, der Mensch sei zu einem bloß diesseitigen Wesen herabgesetzt, wodurch die Philosophie im Positivismus versinkt. Denn was ist „logischer" als dies, dass, wer die Weltlichkeit des Menschseins behauptet, nur das Diesseitige gelten lässt und das Jenseitige leugnet und aller „Transzendenz" absagt?

Weil auf Nietzsches Wort vom „Tod Gottes" hingewiesen wird, erklärt man ein solches Tun für Atheismus. Denn was ist „logischer" als dies, dass derjenige, der den „Tod Gottes" erfahren hat, ein Gott-loser ist?

Weil in all dem genannten überall gegen das gesprochen wird, was der Menschheit als hoch und heilig gilt, lehrt diese Philosophie eine verantwortungslosen und zerstörerischen „Nihilismus". Denn was ist „logischer" als dies, dass, wer so überall das wahrhaft Seiende leugnet, sich auf die Seite des Nicht-Seienden stellt und damit das bloße Nichts als den Sinn der Wirklichkeit predigt?

(99...) Das Denken gegen „die Werte" behauptet nicht, dass alles, was man als „Werte" erklärt, die „Kultur", die „Kunst", die „Wissenschaft", die „Menschenwürde", „Welt" und „Gott" wertlos sei. Vielmehr gilt es endlich einzusehen, dass eben durch die Kennzeichnung von etwas als „Wert" das so Gewertete seiner Würde beraubt wird. Das besagt: durch die Einschätzung von etwas als Wert, wird das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen. Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner Gegenständlichkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit den Charakter des Wertens hat. Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns - gelten. Die absonderliche Bemühung, die Objektivität der Werte zu erweisen, weiß nicht, was sie tut. Wenn man vollends „Gott" als „den höchsten Wert" verkündet, so ist das eine Herabsetzung des Wesens Gottes.

Das Denken in Werten ist hier und sonst die größte Blasphemie, die sich dem Sein Gegenüber denken läßt. Gegen die Werte denken heißt daher nicht, für die Wertlosigkeit und Nichtigkeit des Seienden die Trommel rühren, sondern bedeutet: gegen die Subjektivierung des Seienden (100) zum bloßen Objekt die Lichtung der Wahrheit des Seins vor das Denken bringen. [...]

(103...) Das Denken überwindet die Metaphysik nicht, indem es sie, noch höher hinaufsteigend, übersteigt und irgendwohin aufhebt, sondern indem es zurücksteigt in die Nähe des Nächsten. Der Abstieg ist, zumal dort, wo der Mensch sich in die Subjektivität verstiegen hat, schwieriger und gefährlicher als der Aufstieg. Der Abstieg führt in die Armut der Ek-sistenz des homo humanus. In der Ek-sistenz wird der Bezirk des homo animalis der Metaphysik verlassen. Die Herrschaft dieses Bezirkes ist der mittelbare und weitzurückreichende (104) Grund für die Verblendung und Willkür dessen, was man als Biologismus bezeichnet, aber auch dessen, was man unter dem Titel Pragmatismus kennt. Die Wahrheit des Seins denken, heißt zugleich: die Humanitas des homo humanus denken. Es gilt die Humanitas zu diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne den Humanismus im metaphysischen Sinne.

(110...) Das Denken, das nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her und auf dieses hin bestimmt, ist weder Ethik noch Ontologie. Darum hat die Frage nach der Beziehung beider zu- (111) einander in diesem Bereich keinen Boden mehr. Dennoch behält ihre Frage, ursprünglicher gedacht, einen Sinn und ein wesentliches Gewicht.

Es muss nämlich gefragt werden: wenn das Denken, die Wahrheit des Seins bedenkend, das Wesen der Humanitas als Ek-sistenz aus deren Zugehörigkeit zum Sein bestimmt, bleibt dann dieses Denken nur ein theoretisches Vorstellen vom Sein und vom Menschen, oder lassen sich aus solcher Erkenntnis zugleich Anweisungen für das tätige Leben entnehmen und diesem an die Hand geben?

Die Antwort lautet: dieses Denken ist weder theoretisch noch praktisch. Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken ist, insofern es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem.

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Sententiae excerptae:
Lat. zu "Humanismus"
1592
Magna scilicet laus est, si homo mansuetus homini est.
Ein großes Lob freilich ist es, wenn ein Mensch dem anderen gewogen ist!
Sen.epist.95,51

1593
Omne hoc, quod vides, quo divina atque humana conclusa sunt, unum est; membra sumus corporis magni.
Dies alles, was du siehst, worin Göttliches und Menschliches inbegriffen ist, ist eines: wir sind Glieder eines großen Körpers.
Sen.epist.95,51

1594
Natura nos cognatos edidit, cum ex isdem et in eadem gigneret; haec nobis amorem indidit, mutuum et sociabiles fecit.
Die Natur hat uns als Verwandte erschaffen, da Sie uns aus demselben Stoff und demselben Zweck hervorbrachte. Sie hat uns gegenseitige Liebe eingepflanzt und uns gesellig gemacht.
Sen.epist.95,52

1596
Ex naturae imperio paratae sint iuvandis manus.
Nach dem Befehl der Natur sollen die Hände für die Hilfsbedürftigen bereit sein.
Sen.epist.95,52

1598
Habeamus: in commune nati sumus.
Halten wir (die Ãœberzeugung) fest: Wir sind zur Gemeinschaft geboren.
Sen.epist.95,53

1599
Societas nostra lapidum fornicationi simillima est, quae, casura nisi in vicem obstarent, hoc ipso sustinetur.
Unsere gesellschaftliche Verbindung ist einem Steingewölbe sehr ähnlich, das einstürzen würde, wenn (die Steine) sich nicht wechselseitig entgegen stünden; eben dadurch wird es gehalten.
Sen.epist.95,53

1603
Amicum eodem habeas loco, quo te!
Achte einen Freund dir selbst gleich!
Sen.epist.95,63

1604
Ex inimico cogita fieri posse amicum, in illo amorem incites, in hoc odium modereris!
Bedenke, dass aus einem Feind ein Freund werden kann, entfache in jenem die Liebe, beschwichtige in diesem den Hass.
Sen.epist.95,63

1597
Homo sum, humani nihil a me alienum puto.
Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches acht' ich mir fremd.
Ter.Haut.77. Sen.epist.95,53


Literatur:
zu "Humanismus" und "Heidegger"
4284
Heidegger, M.
Ãœber den Humanismus
Frankfurt (Manin) 1947

4285
Heidegger, M.
Holzwege
Frankfurt (Main) 1950


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