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Lucius Annaeus Seneca

Aus Senecas Briefen
(Sen.epist.92)
Die Tugend allein gewährt das glückliche Leben

 

 
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Deutsche Übersetzung nach August Pauly bearbeitet von E. Gottwein
zu "Seneca" und "Pauly"
4619
Seneca / Pauly
Lucius Annäus Seneca des Philosophen Werke, 12.-115. Bändchen. Briefe, übersetzt von August Pauly
Stuttgart (Metzler) 1832-1836
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 SENECA LUCILIO SUO SALUTEM
Seneca grüßt seinen Lucilius
(92,1) Puto, inter me teque conveniet externa corpori adquiri, corpus in honorem animi coli, in animo esse partes ministras, per quas movemur alimurque, propter ipsum principale nobis datas. In hoc principali est aliquid inrationale, est et rationale; illud huic servit, hoc unum est, quod alio non refertur sed omnia ad se refert. Nam illa quoque divina ratio omnibus praeposita est, ipsa sub nullo est; et haec autem nostra eadem est, quae ex illa est.
(1) Wir sind, glaube ich, darin einig, dass gewisse äußere Dinge für den Körper herbeigeschafft, dass der Körper der Seele zuliebe gepflegt werde und dass in der Seele gewisse dienende Teile sind, durch die wir uns bewegen und ernähren und die uns um des Vornehmsten willen gegeben sind. In diesem Vornehmsten ist etwas nicht Vernünftiges und etwas Vernünftiges. Jenes ist diesem dienstbar; dieses ist das einzige, was von nichts anderem abhängt, sondern alles auf sich bezieht. Denn wie die göttliche Vernunft über allem steht, selbst keinem anderen untergeordnet, so auch unsere Vernunft, die aus jener ist.
(92,2) Si de hoc inter nos convenit, sequitur, ut de illo quoque conveniat, in hoc uno positam esse beatam vitam, ut in nobis ratio perfecta sit. Haec enim sola non summittit animum, stat contra fortunam; in quolibet rerum habitu servata servat. Id autem unum bonum est, quod numquam defringitur. Is est, inquam, beatus, quem nulla res minorem facit; tenet summa, et ne ulli quidem nisi sibi innixus; nam qui aliquo auxilio sustinetur potest cadere. Si aliter est, incipient multum in nobis valere non nostra. Quis autem vult constare fortuna aut quis se prudens ob aliena miratur?
(2) Wenn wir darüber einig sind, so sind wir es folglich auch darüber, dass das glückliche Leben einzig davon abhängt, ob die Vernunft in uns vollkommen ist. Denn sie allein lässt die Seele sich nicht beugen; sie hält Stand gegen das Schicksal; in jedem Zustand der Dinge bewahrt sie uns, wenn sie bewahrt wird. Das aber ist allein gut, was nie Abbruch erleidet. Der allein, behaupte ich, ist glücklich, den nichts kleiner macht; er behauptet die höchste Stellung, auf nichts gestürzt als auf sich selbst. Denn wer mit fremder Hilfe sich emporhält, kann fallen. Wenn es anderes ist, so wird vieles, was nicht unser ist, anfangen, über uns Gewalt zu haben. Wer will durch das Schicksal bestehen? Welcher vernünftige Mensch bewundert sich wegen etwas, das nicht sein ist?
(92,3) Quid est beata vita? securitas et perpetua tranquillitas. Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene iudicati tenax. Ad haec quomodo pervenitur? si veritas tota perspecta est; si servatus est in rebus agendis ordo, modus, decor, innoxia voluntas ac benigna, intenta rationi nec umquam ab illa recedens, amabilis simul mirabilisque. Denique ut breviter tibi formulam scribam, talis animus esse sapientis viri debet, qualis deum deceat.
(3) Was ist glückliches Leben? Furchtlosigkeit und bleibende Seelenruhe. Diese wird gewonnen, wenn die Seele erhaben denkt und beharrlich festhält, was sie für gut erkannt hat. Wie gelangt man hierzu? Wenn man die Wahrheit ganz durchschaut; wenn man ihm Handeln Ordnung bewahrt, Maß, Anstand und einen unschuldigen, gutmeinenden Willen, der sich immer nach der Vernunft richtet, sich nie von dieser entfernt und gleichermaßen Liebe wie Bewunderung verdient. Kurz, um es hier in einer bündigen Formel zu geben: des Weisen Seele muss so beschaffen sein, wie sie eines Gottes würdig wäre.
(92,4) Quid potest desiderare is, cui omnia honesta contingunt? Nam si possunt aliquid non honesta conferre ad optimum statum, in his erit beata vita, sine quibus non est. Et quid turpius stultiusve, quam bonum rationalis animi ex inrationalibus nectere?
(4) Was kann der vermissen, dem alles sittlich Gute zuteil wird? Denn könnte das Nichtsittliche etwas zum besten Zustand beitragen, so würde das glückliche Leben auf Dingen beruhen, mit denen es nicht vereinbar ist. Was wäre verkehrter und schimpflicher, als das Gut der vernünftigen Seele an das Unvernünftige zu knüpfen?
(92,5) Quidam tamen augeri summum bonum iudicant, quia parum plenum sit fortuitis repugnantibus. Antipater quoque inter magnos sectae huius auctores aliquid se tribuere dicit externis, sed exiguum admodum. Vides autem, quale sit die non esse contentum, nisi aliquis igniculus adluxerit: quod potest in hac claritate solis habere scintilla momentum?
(5) Einige glauben jedoch, das höchste Gut sei einer Vermehrung fähig, sofern es, wenn Zufälliges widerstreite, nicht vollständig sei. Selbst Antipater, einer der größten Lehrer dieser Schule, sagt, er gestehe den äußeren Dingen etwas zu, aber nur sehr wenig. Was würde man dazu sagen, wenn einer mit dem Tageslicht nicht zufrieden wäre, falls nicht auch ein Lämpchen dazu leuchtete? Was soll bei dem hellen Sonnenschein ein Funken wirken?
(92,6) Si non es sola honestate contentus, necesse est aut quietem adici velis, quam Graeci ἀοχλησίαν vocant, aut voluptatem. Horum alterum utcumque recipi potest; vacat enim animus molestia liber ad inspectum universi, nihilque illum avocat a contemplatione naturae. Alterum illud, voluptas, bonum pecoris est: adicimus rationali inrationale, honesto inhonestum. Hanc nobis vitam facit titillatio corporis?
(6) Bist du nicht mit der Tugend allein zufrieden, so musst du notwendig wünschen, dass auch jene Ruhe, die die Griechen ἀοχλησία (das Unbelästigtsein) nennen oder das sinnliche Vergnügen hinzukomme. Jenes erstere lässt sich immerhin annehmen; denn die beschwerdenfreie Seele kann unbehindert das All schauen und nichts zieht sie ab von der Betrachtung der Natur; das letztere, die Sinnenlust, ist ein Gut des Tieres. Wir bringen zudem Vernünftigen das Nichtvernünftige, zu dem Sittlichen das Nichtsittliche. Bereitet uns der körperliche Kitzel dieses unser Leben?
(92,7) Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini, si palato bene est? Et hunc tu, non dico inter viros numeras, sed inter homines, cuius summum bonum saporibus et coloribus et sonis constat?
Excedat ex hoc animalium numero pulcherrimo ac dis secundo; mutis adgregetur animal pabulo laetum.
(7) Warum steht man also an, zu sagen, es sei dem Menschen wohl, wenn seinem Gaumen wohl ist? Den willst du nicht nur zu den Menschen, sondern zu den Männern zählen, dessen letztes Gut in wohlschmeckenden den Dingen, in Farben und Tönen besteht?
Er trete aus der Zahl dieser edelsten aller Lebewesen, den nächsten nach den Göttern; er geselle sich zu den unvernünftigen Geschöpfen als Tier, das sich nur seines Futters freut.
(92,8) Inrationalis pars animi duas habet partes, alteram animosam, ambitiosam, inpotentem, positam in adfectionibus, alteram humilem, languidam, voluptatibus deditam: illam effrenatam, meliorem tamen, certe fortiorem ac digniorem viro, reliquerunt, hanc necessariam beatae vitae putaverunt, enervem et abiectam.
(8) Das Nichtvernünftige in der Seele hat zwei Teile: der eine ist aufgeregt, ehrgeizig, unbändig, der Sitz der Leidenschaften; der andere niedrig, schlaff, den Lüsten ergeben. Jenen ungezügelten, aber besseren, jedenfalls kräftigeren und des Mannes würdigeren haben sie aufgegeben; diesen nervlosen und verworfenen halten sie für unentbehrlich zum glücklichen Leben.
(92,9) Huic rationem servire iusserunt, et fecerunt animalis generosissimi summum bonum demissum et ignobile, praeterea mixtum portentosumque et ex diversis ac male congruentibus membris. Nam ut ait Vergilius noster in Scylla (Verg.Aen.3,326ff.),
prima hominis facies et pulchro pectore virgo
pube tenus, postrema inmani corpore pistrix
delphinum caudas utero commissa luporum.
Huic tamen Scyllae fera animalia adiuncta sunt, horrenda, velocia: at isti sapientiam ex quibus composuere portentis?
(9) Diesem soll die Vernunft frönen. Das höchste Gut des edelsten Geschöpfes soll etwas Niedriges und Gemeines sein, ein monströses Gemisch aus verschiedenen übel zusammenstimmenden Bestandteilen, ähnlich der Skylla, von der unser Vergilius sagt (Verg.Aen.3,326ff.):
Vorn ist Menschengestalt, und schön von Busen die Jungfrau
Bis an den Schoß; doch hinten ein grauenvoll ringelnder Walfisch,
welcher Delphinengeschwänz an den Bauch der Wölfe gefügt.
Und doch sind mit dieser Skylla nur Tiere verbunden, wilde zwar und furchtbare, reißende; aber aus welchen Ungeheuern haben jene die Weisheit zusammengesetzt?
(92,10) Prima pars hominis est ipsa virtus; huic committitur inutilis caro et fluida, receptandis tantum cibis habilis, ut ait Posidonius. Virtus illa divina in lubricum desinit et superioribus eius partibus venerandis atque caelestibus animal iners ac marcidum adtexitur. Illa utcumque altera quies nihil quidem ipsa praestabat animo, sed inpedimenta removebat: voluptas ultro dissolvit et omne robur emollit. Quae invenietur tam discors inter se iunctura corporum? Fortissimae rei inertissima adstruitur, severissimae parum seria, sanctissimae intemperans usque ad incesta.
(10) "Der erste Teil des Menschen ist die Tugend selbst; an sie knüpft sich ein unnützes, liederliches Fleisch, bloß tauglich, Speisen in sich aufzunehmen ", wie Poseidonios sagt. Jene göttliche Tugend geht in Schlüpfriges aus und den oberen ehrwürdigen und himmlischen Teilen ist ein träges, schlaffes Tier angefügt. Jene tiefe Ruhe gewährt zwar der Seele nichts, aber sie entfernt doch die Hindernisse; die Sinnenlust jedoch zerstört und lähmt all ihre Kraft. Wo wird man eine Verbindung so widerstrebender Körper finden? Dem Kraftvollsten wird das Unkräftigste angefügt, dem Ernstesten das so wenig Ernste, dem Keuschesten Zuchtloses bis zur Blutschande.
(92,11) 'Quid ergo?' inquit 'si virtutem nihil inpeditura sit bona valetudo et quies et dolorum vacatio, non petes illas?' Quidni petam? non quia bona sunt, sed quia secundum naturam sunt, et quia bono a me iudicio sumentur. Quid erit tunc in illis bonum? hoc unum, bene eligi. Nam cum vestem, qualem decet, sumo, cum ambulo, ut oportet, cum ceno, quemadmodum debeo, non cena aut ambulatio aut vestis bona sunt, sed meum in iis propositum servantis in quaque re rationi convenientem modum.
(11) "Wie aber," sagt man, "wenn Gesundheit, Ruhe, Schmerzlosigkeit der Tugend nicht hinderlich sind, wirst du sie nicht begehren?" Wie sollte ich nicht? Aber nicht, weil sie Güter, sondern weil sie der Natur gemäß sind und weil sie nach richtigem Urteil von mir gewählt werden. Was wird dann Gutes an ihnen sein? Das eine, ihre richtige Wahl. Wenn ich eine Bekleidung wähle, wie sie angemessen ist, wenn mein Gang ist, wie sich gebührt, wenn ich speise, wie ich soll, so ist nicht meine Mahlzeit, mein Gang, meine Bekleidung gut, sondern mein Verfahren, das in allen Dingen das vernünftige Maß beachtet.
(92,12) Etiamnunc adiciam: mundae vestis electio adpetenda est homini; natura enim homo mundum et elegans animal est. Itaque non est bonum per se munda vestis sed mundae vestis electio, quia non in re bonum est sed in electione quali; actiones nostrae honestae sunt, non ipsa, quae aguntur.
(12) Noch setzte ich hinzu: die Wahl eines reinen Kleides ist für den Menschen wünschenswert; denn von Natur ist der Mensch ein reines und sauberes Wesen. Also ist ein reines Kleid nicht für sich selbst ein Gut, sondern die Wahl eines reinen; weil das Gut nicht in der Sache selbst liegt, sondern in der Art der Wahl; unsere Handlungen sind sittlich gut, nicht ihr Gegenstand.
(92,13) Quod de veste dixi, idem me dicere de corpore existima. Nam hoc quoque natura ut quandam vestem animo circumdedit; velamentum eius est. Quis autem umquam vestimenta aestimavit arcula? nec bonum nec malum vagina gladium facit. Ergo de corpore quoque idem tibi respondeo: sumpturum quidem me, si detur electio, et sanitatem et vires, bonum autem futurum iudicium de illis meum, non ipsa.
(13) Was ich vom Kleid sagte, denke dir auch vom Körper gesagt. Auch diesen hat die Natur, wie ein Gewand, der Seele umgelegt: er ist Ihre Hülle. Wer hat aber je Kleider nach dem Schrank geschätzt? Ein Schwert wird durch seine Scheide weder gut noch schlecht. Also gebe ich dir auch wegen des Körpers die selbe Antwort: ich werde, wenn mir die Wahl gelassen ist, Gesundheit und Körperkräfte annehmen; aber das Gute dabei wird mein Urteil über sie sein, nicht sie selbst.
(92,14) 'Est quidem' inquit 'sapiens beatus; summum tamen illud bonum non consequitur, nisi illi et naturalia instrumenta respondeant. Ita miser quidem esse, qui virtutem habet, non potest, beatissimus autem non est, qui naturalibus bonis destituitur, ut valetudine, ut membrorum integritate.'
(14) "Der Weise ist zwar glücklich," sagt man weiter, "allein jenes höchste Gut erreicht er nicht, wenn ihm nicht die natürlichen Werkzeuge entsprechen. So kann zwar, wer die Tugend hat, nicht unglücklich sein; aber glücklich in vollem Maß ist er nicht, wenn die natürlichen Güter, Gesundheit und unverletzte Glieder ihm fehlen."
(92,15) Quod incredibilius videtur, id concedis, aliquem in maximis et continuis doloribus non esse miserum, esse etiam beatum: quod levius est, negas: beatissimum esse. Atqui si potest virtus efficere, ne miser aliquis sit, facilius efficiet, ut beatissimus sit; minus enim intervalli a beato ad beatissimum restat quam a misero ad beatum. An quae res tantum valet, ut ereptum calamitatibus inter beatos locet, non potest adicere, quod superest, ut beatissimum faciat? in summo deficit clivo?
(15) Damit gibst du das zu, was schwerer zu begreifen scheint, dass man auch unter den größten und anhaltendsten Schmerzen nicht elend, sondern sogar glücklich sein könne. Was leichter ist, stellst du in Abrede: dass er vollkommen glücklich sei. Wenn die Tugend aber bewirken kann, dass man nicht unglücklich ist, so wird sie noch leichter bewirken, dass man vollkommen glücklich ist. Denn der Unterschied zwischen glücklich und vollkommen glücklich ist weniger groß als zwischen unglücklich und glücklich. Was den Menschen dem Elend zu entrücken und unter die Glücklichen zu versetzen vermag, soll,was zu seinem vollkommenen Glück noch fehlt, nicht hinzufügen können soll, auf seiner Höhe ermatten?
(92,16) Commoda sunt in vita et incommoda, utraque extra nos. Si non est miser vir bonus, quamvis omnibus prematur incommodis, quomodo non est beatissimus, si aliquibus commodis deficitur? Nam quemadmodum incommodorum onere usque ad miserum non deprimitur, sic commodorum inopia non deducitur a beatissimo, sed tam sine commodis beatissimus est, quam non est sub incommodis miser; aut potest illi eripi bonum suum, si potest minui.
(16) Es gibt Annehmlichkeiten im Leben und Unannehmlichkeiten, beide außer uns. Wenn der rechtschaffene Mann nicht unglücklich ist, auch wenn alles Ungemach ihn drückt, wie sollte er nicht in vollem Maß glücklich sein, auch wenn ihm einige Annehmlichkeiten fehlen? Denn wie er durch die Last des Unangenehmen nicht bis zum Unglück niedergedrückt wird, so zieht ihn auch der Mangel des Angenehmen nicht von der höchsten Höhe des Glücks herab: er ist ohne Angenehmes ebenso sehr der glücklichste, als er unter Unannehmlichkeiten nicht unglücklich ist; sonst könnte ihm sein Gut entrissen werden, wenn es verringert werden könnte.
(92,17) Paulo ante dicebam igniculum nihil conferre lumini solis; claritate enim eius, quidquid sine illo luceret, absconditur. 'Sed quaedam' inquit 'soli quoque opstant.' At sol integer est etiam inter opposita, et quamvis aliquid interiacet, quod nos prohibeat eius aspectu, in opere est, cursu suo fertur; quotiens inter nubila eluxit, non est sereno minor, ne tardior quidem, quoniam multum interest, utrum aliquid obstet tantum an inpediat.
(17) Vorhin sagte ich, das Licht eines Lämpchens vermehre den hellen Sonnenschein nicht; denn durch dessen Klarheit wird alles, was sonst leuchtet, überstrahlt. "Aber", wendet man ein, "auch der Sonne stellen sich Hindernisse entgegen; Kraft und Licht der Sonne bleiben ungeschmälert, auch bei Hindernissen; und obgleich Dinge dazwischen treten können, die uns ihren Anblick entziehen, ist sie doch in Wirksamkeit und setzt ihren Lauf fort. Wenn sie bei umwölktem Himmel leuchtet, ist sie nicht kleiner noch langsamer als bei heiterem, weil es ein großer Unterschied ist, ob etwas sich nur entgegenstellt oder aufhält.
(92,18) Eodem modo virtuti opposita nihil detrahunt: non est minor, sed minus fulget. Nobis forsitan non aeque apparet ac nitet, sibi eadem est et more solis obscuri in occulto vim suam exercet. Hoc itaque adversus virtutem possunt calamitates et damna et iniuriae, quod adversus solem potest nebula.
(18) Ebenso entziehen der Tugend jene Dinge nichts, die ihr entgegentreten. Sie wird dadurch nicht vermindert, aber sie glänzt weniger; uns fällt sie vielleicht weniger leuchtend ins Auge, an sich ist sie die selbe und nach Art der verdunkelten Sonne übt sie ihre Kraft im Verborgenen. So vermögen Unglücksfälle, Verluste, Misshandlungen gegen die Tugend ebenso viel, wie ein Nebel gegen die Sonne.
(92,19) Invenitur, qui dicat sapientem corpore parum prospero usum nec miserum esse nec beatum. Hic quoque fallitur; exaequat enim fortuita virtutibus et tantundem tribuit honestis, quantum honestate carentibus. Quid autem foedius, quid indignius quam comparari veneranda contemptis? Veneranda enim sunt iustitia, pietas, fides, fortitudo, prudentia: e contrario vilia sunt, quae saepe contingunt pleniora vilissimis, crus solidum et lacertus et dentes et horum sanitas firmitasque.
(19) Man hört auch die Behauptung, der Weise, dessen Körper nicht in erwünschter Verfassung sei, sei weder elend noch glücklich. Auch dies ist ein Irrtum. Man stellt hier das Zufällige den Tugenden gleich und räumt dem nicht sittlich Guten ebenso viele ein wie dem sittlich Guten. Kann es aber etwas Hässlicheres und Unwürdigeres geben, als Ehrwürdiges mit Verächtlichem zusammenzustellen? Ehrwürdig sind Treue, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Mut, Klugheit; geringen Wert hingegen haben Dinge, die oft dem Wertlosesten in vollem Maß zufallen: kräftige Beine und Arme und Zähne und deren Gesundheit und Festigkeit.
(92,20) Deinde si sapiens, cui corpus molestum est, nec miser habebitur nec beatus, sed <in> medio relinquetur, vita quoque eius nec adpetenda erit nec fugienda. Quid autem tam absurdum quam sapientis vitam adpetendam non esse? aut quid tam extra fidem quam esse aliquam vitam nec adpetendam nec fugiendam? Deinde si damna corporis miserum non faciunt, beatum esse patiuntur; nam quibus potentia non est in peiorem transferendi statum, ne interpellandi quidem optimum.
(20) Wenn sodann der Weise, der an Körperbeschwerden leidet, weder für elend noch für glücklich gehalten, sondern in der Mitte belassen wird, so wird auch seine Lebensweise weder wünschenswert sein noch vermieden werden müssen. Was könnte aber ungereimter sein, als dass die Lebensweise eines Weisen nicht wünschenswert sei? Was weniger zu begreifen als eine Lebensweise, die nicht zu wünschen, aber auch nicht zu fliehen wäre? Ferner: wenn körperliche Gebrechen nicht unglücklich machen, so lassen sie glücklich sein. Denn was nicht in eine schlechte Lebensweise versetzen kann, kann auch nicht die beste unterbrechen. -
(92,21) 'Frigidum' inquit 'aliquid et calidum novimus, inter utrumque tepidum est; sic aliquis beatus est, aliquis miser, aliquis nec beatus nec miser.' Volo hanc contra nos positam imaginem excutere. Si tepido illi plus frigidi ingessero, fiet frigidum; si plus calidi adfudero, fiet novissime calidum. At huic nec misero nec beato, quantumcumque ad miserias adiecero, miser non erit, quemadmodum dicitis; ergo imago ista dissimilis est.
(21) "Wir kennen", sagt man, "Kaltes und Warmes; zwischen beiden ist das Laue. Ist einer glücklich und ein anderer unglücklich, so kann ein dritter weder das eine noch das andere sein." - Ich will dieses uns entgegengehaltene Bild näher prüfen. Wenn ich dem Lauen überwiegend viel Kaltes zugieße, so wird es kalt; gieße ich mehr Warmes zu, so wird es am Ende warm. Dem aber, der weder unglücklich noch glücklich ist, mag ich zum Unglück noch hinzufügen, so viel ich will, er wird darum nicht unglücklich werden, wie ihr sagt. Also ist euer Bild nicht ähnlich.
(92,22) Deinde trado tibi hominem nec miserum nec beatum. Huic adicio caecitatem: non fit miser; adicio debilitatem: non fit miser; adicio dolores continuos et graves: miser non fit. Quem tam multa mala in miseram vitam non transferunt ne ex beata quidem educunt.
(22) Denke dir ferner einen Menschen, der weder unglücklich noch glücklich ist; diesem gebe ich noch Blindheit hinzu: er wird nicht unglücklich sein und ebensowenig, wenn ich noch Gebrechlichkeit und anhaltende schwere Schmerzen über ihn verhänge. Wen so viele Übel nicht in das unglückliche Leben versetzen, den können sie auch nicht aus dem glücklichen vertreiben.
(92,23) Si non potest, ut dicitis, sapiens ex beato in miserum decidere, non potest in non beatum. Quare enim, qui labi coepit, alicubi subsistat? quae res illum non patitur ad imum devolvi, retinet in summo. Quidni non possit beata vita rescindi? ne remitti quidem potest, et ideo virtus ad illam per se ipsa satis est.
(23) Wenn, wie ihr sagt, der Weise nicht aus dem Glück ins Unglück versinken kann, so kann er auch nicht in den nicht unglücklichen. Denn wie könnte, wer zu gleiten begonnen hätte, irgendwo stillstehen? Was ihn nicht in die Tiefe hinabfallen lässt, hält ihn auf dem Gipfel. - "So sollte also ein glückliches Leben nicht zerstört werden können?" Nicht einmal eine Schmälerung kann es erleiden und deswegen ist die Tugend für sich dazu hinreichend.
(92,24) 'Quid ergo?' inquit 'sapiens non est beatior, qui diutius vixit, quem nullus avocavit dolor, quam ille, qui cum mala fortuna semper luctatus est?' Responde mihi: numquid et melior est et honestior? Si haec non sunt, ne beatior quidem est. Rectius vivat oportet, ut beatius vivat: si rectius non potest, ne beatius quidem. Non intenditur virtus, ergo ne beata quidem vita, quae ex virtute est. Virtus enim tantum bonum est, ut istas accessiones minutas non sentiat, brevitatem aevi et dolorem et corporum varias offensiones; nam voluptas non est digna, ad quam respiciat.
(24) "Wie?" Sagt man, "der Weise, der länger gelebt, den kein Schmerz bestürmt hat, wäre nicht glücklicher gewesen als der, der fortwährend mit dem Missgeschick zu kämpfen hatte?" - Antworte mir: war er sittlich besser und rechtschaffener? Wenn nicht, so war er auch nicht glücklicher. Um glücklicher zu leben, lebe man besser! Kann man dies nicht, so lebt man auch nicht glücklicher. Die Tugend erleidet keine Steigerung, also auch nicht das glückliche Leben, das aus der Tugend kommt. Die Tugend ist ein so großes Gut, dass sie so geringe Nebendinge nicht wahrnimmt, wie Kürze des Lebens, Schmerz und die mancherlei Anfeindungen des Körpers; denn Sinnenlust ist nicht wert, (von ihr) berücksichtigt zu werden.
(92,25) Quid est in virtute praecipuum? futuro non indigere nec dies suos conputare. In quantulo libet tempore, bona aeterna consummat.
Incredibilia nobis haec videntur et supra humanam naturam excurrentia; maiestatem enim eius ex nostra inbecillitate metimur et vitiis nostris nomen virtutis inponimus. Quid porro? non aeque incredibile videtur aliquem in summis cruciatibus positum dicere 'beatus sum'? Atqui haec vox in ipsa officina voluptatis audita est. 'Beatissimum' inquit 'hunc et ultimum diem ago' Epicurus, cum illum hinc urinae difficultas torqueret, hinc insanabilis exulcerati dolor ventris.
(25) Was ist das Schönste an der Tugend? Dass sie des Künftigen nicht bedarf und ihre Tage nicht zählt; auch in der kleinsten Lebensfrist bringt sie ihre ewigen Güter zustande.
Dies ist uns unbegreiflich und scheint uns über die menschliche Natur hinauszugehen; denn wir messen die Größe und Hoheit der Tugend nach unserer Schwäche und belegen unsere Mängel mit dem Namen der Tugend. Aber scheint es denn nicht ebenso unbegreiflich, dass einer mitten unter den größten Qualen sagen sollte: Ich bin glücklich? Und doch ist dieses Wort in der Schule des Vergnügens selbst gehört worden. "Dies ist mein glücklichster und mein letzter Lebenstag" rief Epikur, als ihn bald Harnzwang, bald die Schmerzen seines entzündeten Unterleibes marterten.
(92,26) Quare ergo incredibilia ista sint apud eos, qui virtutem colunt, cum apud eos quoque reperiantur, apud quos voluptas imperavit? Hi quoque degeneres et humillimae mentis aiunt in summis doloribus, in summis calamitatibus sapientem nec miserum futurum nec beatum. Atqui hoc quoque incredibile est, immo incredibilius; non video enim, quomodo non in imum agatur e fastigio suo deiecta virtus. Aut beatum praestare debet aut, si ab hoc depulsa est, non prohibebit fieri miserum. Stans non potest mitti: aut vincatur oportet aut vincat.
(26) Warum sollte also etwas bei denen, die die Tugend verehren, unbegreiflich sein, was sich doch auch bei solchen findet, bei denen das Vergnügen die Herrschaft führt? Auch diese Entarteten und niedrig Gesinnten sagen, bei den größten Schmerzen, unter den schwersten Unglücksfällen werde der Weise weder unglücklich noch glücklich sein. Und doch ist auch dies unbegreiflich, ja noch unbegreiflicher. Denn ich sehe nicht, wie die Tugend, nicht in die unterste Tiefe versinken sollte, sobald sie einmal von ihrem Gipfel gestürzt ist. Sie muss entweder glücklich machen oder sie wird, wenn sie davon ausgeschlossen ist, nicht verhindern, dass man unglücklich wird. Stehend kann sie nicht entlassen werden; entweder wird sie besiegt oder sie ist Siegerin.
(92,27) 'Dis' inquit 'inmortalibus solis et virtus et beata vita contigit, nobis umbra quaedam illorum bonorum et similitudo; accedimus ad illa, non pervenimus.' Ratio vero dis hominibusque communis est: haec in illis consummata est, in nobis consummabilis.
(27) "Den unsterblichen Göttern", sagt man, "ist allein Tugend und glückliches Leben zuteil geworden, uns nur ein Abbild und ein Schatten von jenen Gütern: wir nähern uns ihnen, aber wir erreichen sie nicht." - Die Vernunft ist Göttern und Menschen gemein; in jenen ist sie vollendet, in uns der Vollendung fähig.
(92,28) Sed ad desperationem nos vitia nostra perducunt. Nam ille alter secundus est ut aliquis parum constans ad custodienda optima, cuius iudicium labat etiamnunc et incertum est. Desideret oculorum atque aurium sensum, bonam valetudinem et non foedum aspectum corporis et habitu manente suo aetatis praeterea longius spatium.
(28) Aber unsere Fehler nötigen uns, die Hoffnung aufzugeben. Freilich ist der Weise des zweiten Ranges noch wenig fest in der Bewahrung des Besten; noch wankt sein Urteil und ist unzuverlässig. Dieser mag immerhin gesunden Zustand seiner Augen und Ohren verlangen, leidliches Wohlbefinden, ein nicht unansehnliches Äußere, einen Körper, der immer in seiner gehörigen Verfassung bleibt, und zu all dem eine längere Dauer des Lebens;
(92,29) Per haec potest non paenitenda agi vita, at inperfecto viro huic malitiae vis quaedam inest, quia animum habet mobilem ad prava, illa aitarens malitia et ea agitata abest [de bono]. Non est adhuc bonus, sed in bonum fingitur; cuicumque autem deest aliquid ad bonum, malus est.
(29) eine solche erlaubt ihm zu tun, was er nicht bereuen darf. In diesem unvollkommenen Menschen wohnt noch eine Kraft des Schlechten; weil er noch ein wandelbares Gemüt hat, treibt ihm das anhängende Schlechte zum Verkehrten und, sooft jenes in ihm aufgeregt ist, steht er dem Guten fern. Noch ist der also nicht gut; aber er wird zum Guten gebildet. Wem jedoch zum Guten noch etwas fehlt, der ist schlecht.
(92,30) Sed (Verg.Aen.5,363)
si cui virtus animusque in corpore praesens,
hic deos aequat, illo tendit originis suae memor. Nemo inprobe eo conatur ascendere, unde descenderat. Quid est autem cur non existimes in eo divini aliquid existere, qui dei pars est? Totum hoc, quo continemur et unum est et deus; et socii sumus eius et membra.
Capax est noster animus, perfertur illo, si vitia non deprimant. Quemadmodum corporum nostrorum habitus erigitur et spectat in caelum, ita animus, cui, in quantum vult, licet porrigi, in hoc a natura rerum formatus est, ut paria dis vellet; et si utatur suis viribus ac se in spatium suum extendat, non aliena via ad summa nititur.
(30) (Verg.Aen.5,363)
Aber wem Kraft beiwohnt und ein fertiger Mut in dem Herzen,
der steht den Göttern gleich; dorthin strebt er seines Ursprungs eingedenk. Niemand müht sich verwerflich, dorthin emporzusteigen, von wo er herabstieg. Warum sollten wir nicht glauben, dass etwas Göttliches bei dem sei, der ein Teil Gottes ist? Dieses Ganze, das uns in sich begreift, ist eines und ist Gott; wir sind Genossen von ihm und Glieder.
Unsere Seele kann Großes erfassen: sie kann sich dorthin erheben, wenn Laster sie nicht niederdrücken. Wie die Stellung unseres Körpers aufgerichtet ist und nach dem Himmel schaut, so ist auch unsere Seele, die sich ausdehnen kann, so weit sie will, von der Natur dazu geschaffen, dass sie eben das will, was die Götter wollen; und wenn sie sich dazu ihrer eigenen Kräfte bedient und sich in ihrem eigenen Kreis erweitert, strebt sie nicht auf fremdem Weg nach dem Höchsten.
(92,31) Magnus erat labor ire in caelum: redit. Cum hoc iter nactus est, vadit audaciter contemptor omnium nec ad pecuniam respicit aurumque et argentum, illis, in quibus iacuere tenebris, dignissima, non ab hoc aestimat splendore, quo inperitorum verberant oculos, sed a vetere caeno, ex quo illa secrevit cupiditas nostra et effodit. Scit, inquam, aliubi positas esse divitias, quam quo congeruntur; animum impleri debere, non arcam.
(31) Es wäre eine große Aufgabe, in den Himmel zu gehen; sie geht nur dahin zurück: Wenn sie diesen Weg betreten hat, wandelt sie kühn, alles andere verachtend; auch nach dem Geld blickt sie nicht zurück. Gold und Silber, würdig der Finsternis, in der es verborgen lag, schätzt sie nicht nach dem Glanz, mit dem des die Augen der Unverständigen blendet, sondern nach dem alten Schmutz, aus dem unsere Begierde es ausgegraben und ausgeschieden hat. Sie weiß, behaupte ich, dass der Reichtum andereswo liegt, als wo er aufgehäuft wird; dass der Geist, nicht die Kiste angefüllt werden soll.
(92,32) Hunc inponere dominio rerum omnium licet, hunc in possessionem rerum naturae inducere, ut sua orientis occidentisque terminis finiat, deorumque ritu cuncta possideat, cum opibus suis divites superne despiciat, quorum nemo tam suo laetus est, quam tristis alieno.
(32) Wir können die Seele zur Herrin über alle Dinge setzen, können sie in den Besitz der Natur einführen, dass nur der Auf- und Niedergang der Sonne ihr Eigentum begrenze, und sie nach der Weise der Götter alles besitze, indem sie hoch herabsieht auf alle die, die nur durch ihre Schätze reich sind und von denen keiner sich so sehr des Seinigen freut, als ihn das Fremde verdrießt.
(92,33) Cum se in hanc sublimitatem tulit, corporis quoque, ut oneris necessarii, non amator sed procurator est, nec se illi, cui inpositus est, subicit. Nemo liber est, qui corpori servit; nam ut alios dominos, quos nimia pro illo sollicitudo invenit, transeas, ipsius morosum imperium delicatumque est.
(33) Wenn sie sich zu dieser Höhe gehoben hat, so ist sie auch nicht mehr Liebhaberin, sondern Versorgerin ihres Körpers, als einer notwendigen Last; sie ordnet sich nicht dem unter, worüber sie gesetzt ist. Niemand ist frei, der dem Körper dient. Denn um nicht der anderen Herren zu gedenken, die wir uns durch übertriebene Sorge für jenen aufladen, so ist er ja selbst ein schwer zu befriedigender Gebieter.
(92,34) Ab hoc modo aequo animo exit, modo magno prosilit, nec, quis deinde relicti eius futurus sit exitus, quaerit; sed ut ex barba capilloque tonsa neglegimus, ita ille divinus animus egressurus hominem, quo receptaculum suum conferatur, ignis illud excludat an terra contegat an ferae distrahant, non magis ad se iudicat pertinere quam secundas ad editum infantem. Utrum proiectum aves differant an consumatur canibus data praeda marinis, quid ad illum qui nullus est?
(34) Diesem entzieht sie sich bald mit Gleichmut, bald enteilt sie ihm voll hohen Mutes und fragt nicht, was für ein Ende seine Überbleibsel nehmen werden. Wie wir uns nicht um die Barthaare kümmern, die man uns abgeschoren hat, so glaubt auch eine erhabenere Seele, wenn sie den Menschen verlassen will, dass die Frage, wohin man ihre Hülle bringen solle, ob Feuer sie verzehren, oder die Erde sie decken, oder wilde Tiere sie zerreißen werden, sie selbst ebensowenig angehe, wie die Nachgeburt das neugeborene Kind. Ob sie weggeworfen und von Vögeln verschleppt oder "den Hunden zur Beute" überlassen und verzehrt werde, was kümmert es sie?
(92,35) Sed tunc quoque, cum inter homines est, <non> timet ullas post mortem minas eorum, quibus usque ad mortem timeri parum est. 'Non conterret' inquit 'me nec uncus nec proiecti ad contumeliam cadaveris laceratio foeda visuris. Neminem de supremo officio rogo, nulli reliquias meas commendo. Ne quis insepultus esset rerum natura prospexit: quem saevitia proiecerit dies condet.' Diserte Maecenas ait,
nec tumulum curo: sepelit natura relictos.
Alte cinctum putes dixisse; habuit enim ingenium et grande et virile, nisi illud secundis discinxisset (nisi illud secunda discinxissent). Vale!
(35) Aber auch solange er unter den Menschen ist, fürchtet er nach dem Tod keine Drohungen derer, denen es nicht genügt, bis zum Tod gefürchtet zu werden? Mich schreckt der Haken (des Henkers) nicht, spricht er, noch die Zerfleischung meiner zur Schmach hingeworfenen Leiche, nur dem Zuschauer grässlich. Niemanden bitte ich um den letzten Dienst; niemandem empfehle ich meine Überreste: damit keiner unbestattet bleibe, dafür hat die Natur gesorgt. Wen die Grausamkeit hingeworfen hat, den wird die Zeit begraben. Schön sagt Maecenas:
"Nicht sorg' ich für ein Grabmal: die Natur bestattet den Verlassenen."
Man sollte denken, ein "Hochgeschürzter" hätte so gesprochen. Aber Maecenas hatte wirklich einen großartigen und männlichen Sinn: hätte er ihn nur nicht im Glück verkommen lassen (hätte ihn nur sein Glück nicht verkommen lassen). Lebe wohl!

 

Sententiae excerptae:
Lat. zu "Sen" und "epist.92,"
1288
Illa divina ratio omnibus praeposita est, ipsa sub nullo est; et haec autem nostra eadem est, quae ex illa est.
Jene göttliche Vernunft steht über allem, selbst ist sie keinem anderen untergeordnet; ebenso auch unsere Vernunft, die aus jener ist.
Sen.epist.92,1

1304
Voluptas dissolvit et omne robur emollit .
Die Sinnenlust zerstört und lähmt alle Kraft .
Sen.epist.92,10

1303
Prima pars hominis est ipsa virtus; huic committitur inutilis caro et fluida.
Der erste Teil des Menschen ist die Tugend selbst; an sie knüpft sich ein unnützes, liederliches Fleisch.
Sen.epist.92,10 (Poseidonios)

1305
Natura enim homo mundum et elegans animal est.
Von Natur ist der Mensch ein reines und sauberes Wesen.
Sen.epist.92,12

1306
Actiones nostrae honestae sunt, non ipsa, quae aguntur.
Unsere Handlungen sind sittlich gut, nicht ihr Gegenstand.
Sen.epist.92,12

1307
Corpus natura ut quandam vestem animo circumdedit; velamentum eius est.
Den Körper hat die Natur wie ein Gewand der Seele umgelegt; er ist ihre Hülle.
Sen.epist.92,13

1308
Nec bonum nec malum vagina gladium facit.
Ein Schwert wird durch seine Scheide weder gut noch schlecht.
Sen.epist.92,13

1309
Est quidem sapiens beatus.
Der Weise ist jedenfalls glücklich.
Sen.epist.92,14

1310
Non est miser vir bonus, quamvis omnibus prematur incommodis.
Der rechtschaffener Mann ist nicht unglücklich, auch wenn alles Ungemach ihn drückt.
Sen.epist.92,16

1311
Igniculus nihil confert lumini solis.
Das Licht eines Lämpchens vermehrt den hellen Sonnenschein nicht.
Sen.epist.92,17

1312
Claritate solis, quidquid sine illo luceret, absconditur.
Durch die Helligkeit wird alles, was sonst leuchtet, überstrahlt.
Sen.epist.92,17

1314
Sol, quamvis aliquid interiacet, quod nos prohibeat eius aspectu, in opere est, cursu suo fertur.
Die Sonne ist, obgleich Dinge dazwischen treten können, die uns ihren Anblick entziehen, doch in Wirksamkeit und setzt ihren Lauf fort.
Sen.epist.92,17

1315
Multum interest, utrum aliquid obstet tantum an inpediat.
Es ein großer Unterschied ist, ob etwas sich nur entgegenstellt oder aufhält.
Sen.epist.92,17

1316
Hoc adversus virtutem possunt calamitates et damna et iniuriae, quod adversus solem potest nebula.
Gegen die Tugend vermögen Unglücksfälle, Verluste, Misshandlungen ebenso viel, wie ein Nebel gegen die Sonne.
Sen.epist.92,18

1317
Quid foedius, quid indignius quam comparari veneranda contemptis?
Was gibt es Hässlicheres und Unwürdigeres, als Ehrwürdiges mit Verächtlichem zusammenzustellen?
Sen.epist.92,19

1318
Veneranda enim sunt iustitia, pietas, fides, fortitudo, prudentia.
Ehrwürdig sind Treue, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Mut, Klugheit.
Sen.epist.92,19

1289
In hoc uno positam est beata vita, ut in nobis ratio perfecta sit.
Das glückselige Leben hängt einzig davon ab, ob die Vernunft in uns vollkommen ist.
Sen.epist.92,2

1290
Ratio sola non summittit animum, stat contra fortunam.
Die Vernunft allein lässt die Seele sich nicht beugen und hält Stand gegen das Schicksal.
Sen.epist.92,2

1291
Id unum bonum est, quod numquam defringitur.
Das ist allein gut, was nie Abbruch erleidet.
Sen.epist.92,2

1292
Is est beatus, quem nulla res minorem facit; tenet summa, et ne ulli quidem nisi sibi innixus.
Der allein ist glücklich, den nichts kleiner macht; er behauptet die höchste Stellung, auf nichts gestützt als auf sich selbst.
Sen.epist.92,2

1293
Qui aliquo auxilio sustinetur potest cadere.
Wer mit fremder Hilfe sich emporhält, kann fallen.
Sen.epist.92,2

1294
Quis se prudens ob aliena miratur?
Welcher vernünftige Mensch bewundert sich wegen etwas, das nicht sein ist?
Sen.epist.92,2

1319
Quid tam absurdum quam sapientis vitam adpetendam non esse?
Was könnte ungereimter sein, als dass die Lebensweise eines Weisen nicht wünschenswert sei?
Sen.epist.92,20

1320
Quibus potentia non est in peiorem transferendi statum, ne interpellandi quidem optimum.
Was nicht in eine schlechte Lebensform versetzen kann, kann auch nicht die beste unterbrechen.
Sen.epist.92,20

1321
Non potest sapiens ex beato in miserum decidere.
Der Weise kann nicht aus dem Glück ins Unglück versinken.
Sen.epist.92,23

1322
Virtus ad beatam vitam per se ipsa satis est.
Die Tugend ist zu einem glückseligen Leben für sich hinreichend.
Sen.epist.92,23

1323
Rectius vivat oportet, ut beatius vivat: si rectius non potest, ne beatius quidem.
Um glücklicher zu leben, lebe man besser! Kann man dies nicht, so lebt man auch nicht glücklicher.
Sen.epist.92,24

1324
Virtus tantum bonum est, ut non sentiat brevitatem aevi et dolorem et corporum varias offensiones.
Die Tugend ist ein so großes Gut, dass sie Kürze des Lebens, Schmerz und die mancherlei Anfeindungen des Körpers nicht wahrnimmt.
Sen.epist.92,24

1325
Voluptas non est digna, ad quam respiciat.
Sinnenlust ist nicht wert, (von der Tugend) berücksichtigt zu werden.
Sen.epist.92,24

1326
Virtus, in quantulo libet tempore, bona aeterna consummat.
Auch in der kleinsten Lebensfrist bringt die Tugend ihre ewigen Güter zustande.
Sen.epist.92,25

1327
Vitiis nostris nomen virtutis inponimus.
Wir belegen unsere Mängel mit dem Namen der Tugend.
Sen.epist.92,25

1328
Non video, quomodo non in imum agatur e fastigio suo deiecta virtus.
Ich sehe nicht, wie die Tugend, nicht in die unterste Tiefe versinken sollte, sobald sie einmal von ihrem Gipfel gestürzt ist.
Sen.epist.92,26

1329
Virtus aut vincatur oportet aut vincat.
Entweder wird die Tugend besiegt oder sie ist Siegerin.
Sen.epist.92,26

1330
Dis inmortalibus solis et virtus et beata vita contigit, nobis umbra quaedam illorum bonorum et similitudo; accedimus ad illa, non pervenimus.
Den unsterblichen Göttern ist allein Tugend und glückliches Leben zuteil geworden, uns nur ein Abbild und ein Schatten von jenen Gütern: wir nähern uns ihnen, aber wir erreichen sie nicht.
Sen.epist.92,26

1331
Ratio vero dis hominibusque communis est: haec in illis consummata est, in nobis consummabilis.
Vernunft ist Göttern und Menschen gemein; in jenen ist sie vollendet, in uns der Vollendung fähig.
Sen.epist.92,26

1295
Quid est beata vita? securitas et perpetua tranquillitas.
Was ist glückliches Leben? Furchtlosigkeit und bleibende Seelenruhe.
Sen.epist.92,3

1296
Talis animus esse sapientis viri debet, qualis deum deceat.
Des Weisen Seele muss so beschaffen sein, wie sie eines Gottes würdig wäre.
Sen.epist.92,3

1333
Nemo inprobe eo conatur ascendere, unde descenderat.
Niemand müht sich verwerflich, dorthin emporzusteigen, von wo er herabstieg.
Sen.epist.92,30

1334
Totum hoc, quo continemur et unum est et deus; et socii sumus eius et membra.
Dieses Ganze, das uns in sich begreift, ist eines und ist Gott; wir sind Genossen von ihm und Glieder.
Sen.epist.92,30

1335
Quemadmodum corporum nostrorum habitus erigitur et spectat in caelum, ita animus, cui, in quantum vult, licet porrigi, in hoc a natura rerum formatus est, ut paria dis vellet.
Wie die Stellung unseres Körpers aufgerichtet ist und nach dem Himmel schaut, so ist auch unsere Seele, die sich ausdehnen kann, so weit sie will, von der Natur dazu geschaffen, dass sie eben das will, was die Götter wollen.
Sen.epist.92,30

1332
Cui virtus animusque in corpore praesens, hic deos aequat, illo tendit originis suae memor.
Wem Kraft beiwohnt und ein fertiger Mut in dem Herzen, der steht den Göttern gleich; dorthin strebt er seines Ursprungs eingedenk.
Sen.epist.92,30 (Verg.Aen.5,363)

1336
Magnus erat (animo) labor ire in caelum: redit.
Es wäre (für die Seele) eine große Aufgabe, in den Himmel zu gehen; sie geht nur dahin zurück.
Sen.epist.92,31

1337
Animus impleri debet, non arca.
Der Geist, nicht die (Geld-)Kiste muss angefüllt werden.
Sen.epist.92,31

1338
Nemo liber est, qui corpori servit.
Niemand ist frei, der dem Körper dient.
Sen.epist.92,33

1339
Quem saevitia proiecerit dies condet.
Wen die Grausamkeit hingeworfen (zu Tod gebracht) hat, den wird die Zeit begraben.
Sen.epist.92,35 (Maecenas)

1297
Quid potest desiderare is, cui omnia honesta contingunt?
Was kann der vermissen, dem alles sittlich Gute zuteil wird?
Sen.epist.92,4

1298
Quid turpius stultiusve, quam bonum rationalis animi ex inrationalibus nectere?
Was wäre verkehrter und schimpflicher, als das Gut der vernünftigen Seele an das Unvernünftige zu knüpfen?
Sen.epist.92,4

1299
Die non est contentus, nisi aliquis igniculus adluxerit.
Er ist mit dem Tageslicht nicht zufrieden, wenn nicht noch ein Lämpchen dazu leuchtet.
Sen.epist.92,5

1300
Vacat animus molestia liber ad inspectum universi, nihilque illum avocat a contemplatione naturae.
Die beschwerdenfreie Seele kann unbehindert das All schauen und nichts zieht sie ab von der Betrachtung der Natur.
Sen.epist.92,6

1301
Voluptas, bonum pecoris est.
Die Sinnenlust ist ein Gut des Tieres.
Sen.epist.92,6

1302
Bene est homini, si palato bene est.
Dem Menschen ist wohl, wenn seinem Gaumen wohl ist.
Sen.epist.92,7


Literatur:
zu "Sen" und "epist.92,"
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