Protagoras als Repräsentant der Sophistik
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Aufgaben zu Protagoras
Aufgaben zu Protagoras:
- Bestimmen Sie die Charakteristika des protagoreischen Denkens!
- Wie unterscheidet sich Protagoras in seinen Grundaussagen von den
vorausgehenden Naturphi- losophen?
- Hinwendung zum Menschen: die (für den Menschen) wahre Welt
ist kein gedankliches Konstrukt, sondern die von ihm wahrgenommene
- "Parmenides und Heraklit, Parmenides' Schüler Zenon und
Melissos, Leukipp und [...] Anaxagoras und Empedokles hatten alle behauptet, dass die Welt in Wirklichkeit ganz anders ist
als »die Menschen« glauben, dass sie sei, und als sie ihnen erscheint.
Wird der (Homo-mensura-) Satz so aufgefasst, so führt von ihm
auch eine direkte Verbindung zu der Schrift des Gorgias Περὶ
τῆς φύσεως ἢ
περὶ τοῦ μὴ ὄντος,
die ohne diese Beziehung als reine Paradoxie und dialektisches Kunststück
erscheint." (K.v.Fritz (2) 113)
- Wie verträgt sich die subjektivistische Konsequenz des Homo-mensura-Satzes,
dass jede sub- jektive Meinung als gleichwertig mit jeder anderen
subjektiven Meinung sei, mit dem Qualitätsanspruch, den Protagoras
für seine Lehrtätigkeit erhebt?
- Diese Konsequenz liegt nicht in der ursprünglichen Intention
des Protagoras. Erst Platon hat "mit schonungsloser Dialektik"
(K.v.Fritz (2) 114) sowohl auf diese Konsequenz als auch auf den
sich ergebenden Widerspruch aufmerksam gemacht. Diesen Widerspruch
hat prinzipiell jeder Skeptizismus oder Relativismus auszuhalten.
Anderseits läßt Platon Protagoras in seiner "Apologie"
(A 21) so argumentieren, dass er die Implikation von der Gleichwertigkeit
aller Standpunkte gar nicht anerkennt, um so seine pädagogische
"sophia" zu retten.
- Vergleichen Sie die Grundintention des folgenden Textes von R.Sibiuda
(1385-1436), der sein eigenes Denken als "scientia de homine"
bezeichnet (Theologia naturalis seu Liber creaturarum, Bad Cannstadt
1966, S. 33), mit der des Protagoras und überprüfen Sie,
ob beide Texte auch für ihre Zeitepoche als charakteristisch
gelten können:
- "Haec scientia [...] per ipsummet hominem omnia probat,
et per illa, quae certitudinaliter homo cognoscit de se ipso per
experientiam. Nulla autem certior cognitio quam per experientiam
cuiuslibet intra es ipsum. Et ideo ista scientia quaerit non alios
testes, quam ipsummet hominem."
- "Diese (meine) Wissenschaft beweist alles durch den Menschen
selbst und durch alle jene Dinge, die der Mensch gewiß aus
eigener Erfahrung kennt. Keine Erkenntnis ist ja gewisser als
diejenige, die auf der Erfahrung fußt, besonders auf der
Erfahrung jedes Eigenen bei sich selbst. Darum sucht diese Wissenschaft
keinen anderen Zeugen als den Menschen selber."
- Daß Mensch und Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung
rücken ist ein kulturgeschichtlicher Vorgang, der sich unter
veränderten Vorzeichen generell wiederholen kann. Solche
anthropozentrische Bewegungen werden, weil sie den Menschen zu
seinem wahren Selbst führen und aus dem Zwang vorgegebener
absoluten Bindungen "befreien" wollen, als Humanismus
oder Aufklärung verstanden: Protagoras sieht sich im Gegensatz
zur erstarrten Seinsmetaphysik des Parmenides; die Ende des 14.
Jh in Italien einsetzende Renaissance ist eine notwendige Gegenbewegung
zur erstarrten Scholastik.
- Überprüfen Sie die Richtigkeit der folgenden zeitgenössischen
Charakterisierung des Relativis- mus (R.B.Brandt, 1961) an den für
Protagoras ausgezogenen Texten und modifizieren Sie ge- gebenenfalls:
- Entsprechend dem Verständnis zeitgenössischer Sozialwissenschaftler
besteht der ethische Relativismus grob gesagt aus folgenden drei
Behauptungen, die der griechische Philosoph Protagoras schon im
5. vorchristlichen Jahrhundert aufstellte:
- (1) Die ethischen Urteile verschiedener Individuen oder
Gruppen unterscheiden und widersprechen sich häufig in
grundlegender Weise.
- (2) Wenn die Urteile verschiedener Individuen oder Gruppen
voneinander abweichen, ist es nicht immer möglich, einige
von ihnen als richtig zu erweisen; im Gegenteil, manchmal
sind einander widersprechende Prinzipien gleichermaßen
gültig oder richtig.
- (3) Die Menschen sollen nach jenen moralischen Prinzipien
leben oder zu leben versuchen, denen sie jeweils anhängen.
- Eine Protagoras präziser entsprechende Thesenliste könnte
lauten:
- (1) Ob es ein Absolutes (ontologisch) gibt, muss dahingestellt
bleiben, bleibt ein ἄδηλον,
wie z.B. die Existenz der Götter, B4.
- (2) Jedenfalls ist absolute Wahrheit dem Menschen in keinerlei
Hinsicht (kognitiv, emotiv, affektiv) zugänglich. Für
ihn "ist", was ihm "erscheint" (ᾧ
φαίνεται, καὶ
ἔστιν).
- (3) Andererseits besitzt jeder Mensch als natürliche
Ausstattung (Geschenk des Zeus) Wert- und Rechtsempfinden
(αἰδώς,δίκη),
also ein allgemeines Erkenntnis- und Urteilsvermögen.
- (4) Insofern sind menschliche Urteile zwar möglich
(3), aber prinzipiell relativ (2): Sie unterscheiden sich
oder widersprechen sich sogar grundsätzlich.
- (5) Gleichwohl sind die relativen Urteile nicht gleichwertig,
sondern haben relative Wertunterschiede (κακά,
ἀγαθάv), die abhängig sind
von dem Dafürhalten oder Wertempfinden des Einzelnen
oder eines Kollektivs, sei es des (der) Handelnden, des (der)
Betroffenen oder des (der) Beobachtenden. (πάντων
χρημάτων μέτρον
ἄνθρωπος).
- (6) Da jede Form menschlichen Zusammenlebens zumindest einen
Minimalkonsens im Urteil und Werten erfordert, ist ein gegenseitiger
Austausch und eine gegenseitige Einflußnahme (Sozialistion,
öffentliche Meinungsbildung) unabdingbar.
- (7) Öffentliche Meinungsbildung und Sozialisation erfolgen
einmal zwar unreflektiert in jeder Art gesellschaftlicher
Kommunikation, zum anderen aber in bewußt geplanter
Erziehung (zur πολιτικὴ
τέχνη).
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- Letzte Aktualisierung: 30.12.2020 - 11:10 |